Depressionen nach der Geburt Wenn das Babyglück zum Albtraum wird

Etwa jede zehnte Frau leidet nach der Geburt ihres Kindes an Depressionen. Schnelle Hilfe ist dann entscheidend. Doch die Krankheit wird häufig erst gar nicht erkannt - oder kleingeredet.
Mutter mit Neugeborenem (Symbolbild): Schnelle Hilfe entscheidend

Mutter mit Neugeborenem (Symbolbild): Schnelle Hilfe entscheidend

Foto: Corbis

"Ich habe mich monatelang wie hinter Glas gefühlt", sagt Hannah Keller. Nach der Geburt ihrer Tochter fiel die 35-Jährige aus dem Rhein-Main-Gebiet in eine tiefe Depression, die lange unentdeckt blieb. Was mit der jungen Mutter los war, erkannten weder ihre Familie noch die Hebamme, der Frauen- oder der Kinderarzt. Auch bei Psychiatern und einer Babyambulanz machte Keller die Erfahrung, nicht ernst genommen zu werden.

"Die Ausbildung und das Wissen um diese Symptomatik und diese Erkrankung sind nicht so gut, wie sie sein sollten", sagt Andreas Reif, Direktor der Klinik für Psychiatrie der Frankfurter Universität. Aus enormen Scham- und Schuldgefühlen teilten allerdings auch viele Frauen ihre Depression nicht mit. "Sie schreiben sich häufig selber zu, sie hätten versagt und seien keine gute Mutter."

Wochenbettdepression ist mehr als ein Babyblues

Für eine Behandlung muss die Depression allerdings erkannt werden und darf nicht mit dem so häufig zitierten Babyblues verwechselt werden. "Ein Babyblues ist ganz häufig, bei 50 bis 60 Prozent der Frauen", sagt Silvia Oddo-Sommerfeld, Leitende Psychologin in der Abteilung für Geburtshilfe der Uniklinik Frankfurt, die eine telefonische "Wochenbettdepression-Hotline"  ins Leben gerufen hat.

Die auch "Heultage" genannte Verstimmung trete in der Regel in der ersten Woche nach der Geburt auf, oft noch im Krankenhaus, sei hormonell begründet und müsse in der Regel nicht behandelt werden. Anders ist es bei einer echten Wochenbettdepression.

Nach der Geburt leiden laut Oddo-Sommerfeld etwa 10 bis 15 Prozent der Mütter darunter. Und längst nicht immer wird die Krankheit diagnostiziert. Die Ausprägungen sich vielschichtig und reichen von Müdigkeit, Erschöpfung und Niedergeschlagenheit über Schuldgefühle, Schlafstörungen, Ängste und zwiespältige Gefühle dem Kind gegenüber bis hin zu Suizidgedanken.

Perfektionisten erkranken häufiger

"Dass ich weder mir noch dem Kind etwas Irreparables angetan habe, war reine Glückssache", sagt Hannah Keller rückblickend. Warum sie erkrankte, hatte nach ihrer Einschätzung viele Gründe.

"Es war eine sehr schnelle, heftige und schmerzhafte Geburt", sagt sie. Auf der überfüllten Station im Krankenhaus fand sie keine Ruhe, und ihre kleine Tochter schrie von Anfang an, "als ob sie stirbt". "Ich habe alles gemacht, was ich machen konnte, damit sie nicht schreit und versucht, den Laden am Laufen zu halten", beschreibt Keller ihre ersten Monate als Mutter.

Nach Einschätzung von Experten haben Frauen ein besonders hohes Risiko zu erkranken, die schon einmal unter Stimmungserkrankungen gelitten haben oder in der Schwangerschaft ängstlich und depressiv waren. Auch Depressionen in der Familie können ein Faktor sein. "Es ist gar nicht mal so selten, dass sich eine psychische Erkrankung das erste Mal im Wochenbett demaskiert", sagt Reif.

Der soziale Rückhalt der Mutter spielt nach Einschätzung von Oddo-Sommerfeld ebenfalls eine Rolle. Ein zuverlässiger Krankheitsschutz ist es aber nicht, erklärt Reif. "Klassische postpartale Depressionen finden sich auch bei Frauen, die in einem perfekten Umfeld leben, wo der Partner voll dahintersteht, sich alle freuen und die Geburt glatt ging."

Neuere Studien zeigen Oddo-Sommerfeld zufolge auch, dass bestimmte Persönlichkeitsfacetten der Mutter ein Risikofaktor sein können: "In der Regel sind das sehr autonome, gewissenhafte und perfektionistische Frauen", berichtet die Psychotherapeutin. "Es fällt ihnen häufig schwer, mit einem Kind nicht mehr alles selbstbestimmt kontrollieren zu können." Oddo-Sommerfeld, die seit zehn Jahren mit betroffenen Müttern arbeitet, hat zudem die Erfahrung gemacht, dass es eher Frauen aus höheren Bildungsschichten trifft.

Stillen trotz Behandlung

Keller litt gleich zweimal unter Wochenbettdepressionen. Nach der Geburt ihrer zweiten Tochter kehrte die Krankheit zurück. Dabei war alles zunächst ganz anders, berichtet Keller. Die Geburt war so selbstbestimmt wie möglich und letztlich "total schön", erinnert sich die 35-Jährige. Sechs Wochen später überfiel sie die Depression: "Innerhalb von einer Sekunde auf die andere stand ich vor einem Abgrund, der vorher nicht da war und der nicht mehr wegging."

Wochenbettdepressionen treten nicht selten beim zweiten Kind wieder auf, erklärt Reif. Doch sie ließen sich gut behandeln. Bei der Therapie werde Psychopharmakologie mit Psychotherapie kombiniert, sagt Reif. In schweren Fällen gehe es auch darum, wieder den Bezug zum Kind zu bekommen. Um das zu gewährleisten, kann die Mutter je nach Medikamentenauswahl auch während der Behandlung stillen.

Psychotherapie funktioniere sehr gut, wenn sie in den ersten zwei bis drei Monaten nach der Geburt beginne, sagt Oddo-Sommerfeld. Sie warnt: "Wenn man die Depression nicht rechtzeitig behandelt, hat das massive Auswirkungen auf das Kind, die ganze Familie und die Partnerschaft." Sie fordert betroffene Frauen daher auf, rasch Hilfe zu suchen.

Ira Schaible, dpa/jme
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