Online-Therapie bei Depression "Man merkt wieder, dass man etwas schafft"

Täglich einloggen, Tagebuch führen, Fortschritte festhalten: Mithilfe einer digitalen Therapie hat eine schwer Depressive zurück in den Alltag gefunden. Was können die Online-Programme und was nicht?
Von Eva Schläfer

Morgens, beim Aufwachen, lag der Tag wie ein angsteinflößender Wachhund vor Yvonne Mädchen. Jede ihrer Bewegungen schien er knurrend abzuwehren. Die 38-Jährige hatte Angst und ihr fehlte zunehmend der Antrieb für ihr Leben. So verhielt sie sich möglichst regungslos und verbrachte ihre Tage auf dem Sofa.

Yvonne Mädchen, wache Augen, auffällige Kleidung, geht es heute wieder gut. Aber sie hat einen langen Leidensweg hinter sich: Im Oktober 2015 bekam sie die Diagnose Depression, die Krankheit riss sie für anderthalb Jahre aus dem Leben. Sie machte zunächst eine ambulante Therapie in einer Klinik in Leipzig, die sie frühzeitig abbrach, weil sie sich besser fühlte. Doch die Krankheit kam zurück, es folgte eine zweimonatige stationäre Behandlung.

Als sie auf dem Weg der Gesundung aus der Klinik entlassen wurde, musste sie sich erst wieder im selbst organisierten Leben zu Hause zurechtfinden. Alltagsaufgaben hatte sie lange nicht wahrgenommen, was Mädchen brauchte, war Struktur.

Intervention am Wohnzimmertisch

Diese erhielt sie zwischen Oktober 2016 und Januar 2017 über eine Online-Therapie. Per Computer oder Tablet loggte sie sich täglich auf einer Website ein. Dort warteten unterschiedliche Workshops auf sie, die ihr dabei halfen, ihre Stimmung, Gedanken und Verhalten positiv zu kontrollieren. Zudem füllte sie Fragebögen zur Stimmungs- und Aktivitätskontrolle aus.

Yvonne Mädchen

Yvonne Mädchen

Foto: Deutsche Bahn Stiftung/ Castagnola

Yvonne Mädchen hat das Tool bis zur Wiedereingliederung in den Job für insgesamt vier Monate angewendet. "Mir hat das wirklich geholfen", erzählt sie ein Jahr später. "Wenn man über den ganzen Tag hinweg ein Aktivitätsprotokoll führt, merkt man, dass man auch mal wieder etwas macht und schafft."

Vor rund acht Jahren kamen die ersten internetbasierten Interventionsprogramme in Deutschland auf den Markt. Heute sind es ein knappes Dutzend, deren Nutzen für den Anwender schwankt und die teilweise kostenpflichtig sind. Qualitätskriterien existieren noch nicht.

Überbrückung bis zum Therapieplatz

Das Tool, das Yvonne Mädchen nutzte, heißt "iFightDepression" . Es wurde im Rahmen eines europäischen Projektes entwickelt, steht in zehn Sprachversionen zur Verfügung und wird von der Stiftung Deutsche Depressionshilfe kostenfrei angeboten. Ihr Vorstandsvorsitzender Ulrich Hegerl verweist darauf, dass heute immer mehr Menschen die Diagnose Depression bekommen und psychotherapeutische Begleitung suchen, es aber nicht ausreichend Fachärzte und Psychotherapeuten gibt und dadurch große Versorgungsengpässe entstehen.

Seit dem 1. April 2017 müssen Psychotherapeuten eine Sprechstunde anbieten, in der Patienten zeitnah eine erste Einschätzung ihrer psychischen Probleme erhalten. Durch diese Maßnahme hat sich jedoch nicht die Zahl der Behandlungsplätze erhöht. Viele Patienten warten im Anschluss an die Sprechstunde mehrere Wochen, bis sie eine ambulante Psychotherapie beginnen können, erklärt die Bundespsychotherapeutenkammer.

"Die digitalen Angebote sind ein Weg, hier etwas gegenzusteuern", sagt Hegerl. Allerdings sind sie nur wirksam, wenn die Begleitung durch geschulte Mediziner wie bei iFightDepression obligatorisch ist. Die Ärzte erläutern das Programm vorab und beantworten beim nächsten Termin Fragen. Momentan wird das Tool von rund 1000 Menschen unter der Anleitung von 280 Hausärzten genutzt und befindet sich noch in der Evaluierungsphase.

Begleitung durch Arzt oder Therapeut ist entscheidend

Ein skandinavisches Forscherteam um Gerhard Andersson von der Universität Linköping wertete in einer Meta-Studie  fünf unterschiedliche Studien aus, die die Wirksamkeit von Online-Therapie mit einer kognitiven Verhaltenstherapie durch einen Psychotherapeuten verglichen. Bei allen Probanden handelte es sich um Menschen, die beiden Behandlungsmethoden offen gegenüberstanden. Das Ergebnis wurde vor zwei Jahren in dem Fachmagazin "Expert Review of Neurotherapeutics" veröffentlicht und zeigt: Selbsthilfeangebote können ebenso effektiv sein wie eine Verhaltenstherapie - aber nur, wenn sie durch einen Fachmann begleitet werden.

Diese Erkenntnis deckt sich auch mit den Erfahrungen des Psychologen David Ebert von der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Er ist Deutschlands führender Forscher zu internetbasierten Interventionsprogrammen für psychische Erkrankungen.

Der Methodik von iFightDepression stellt er grundsätzlich gute Noten aus. Ebert ist jedoch skeptisch, ob die Unterstützung der Patienten durch die Hausärzte nur beim jeweils nächsten Termin in der Praxis ausreicht. "Es braucht jemanden, der das Programm gut kennt, der prüft, ob sich der Anwender zu viel vornimmt, ob er etwas falsch verstanden hat", so Ebert. "Jemanden, der Krisen frühzeitig erkennt und die Menschen bei Nutzungspausen motiviert dranzubleiben."

Mit dem Therapeuten chatten

In den meisten von David Eberts Forschungseinheit entwickelten Online-Selbsthilfe-Trainingsprogrammen wie zum Beispiel "iCare Prevent"  begleiten daher Psychologen den Prozess, prüfen den Fortschritt, schreiben unterstützende Nachrichten an die Teilnehmer und können jederzeit per Chat kontaktiert werden.

Yvonne Mädchen ist auch heute noch dankbar, dass ihr die digitale Hilfe zur Verfügung stand. Am 1. Dezember vor einem Jahr hatte sie sich mit einer Freundin auf dem Weihnachtsmarkt verabredet: "Ich hatte davor kein gutes Gefühl", erzählt sie, "ich dachte, da sind so viele Menschen, ich bin das erste Mal wieder in der Stadt." Wider Erwarten wurde es ein schöner Abend, und als sie nach Hause zurückkam, konnte sie schwarz auf weiß notieren, dass ihr der Weihnachtsmarktbesuch gutgetan hatte.

Geholfen hat ihr während ihrer Depression zudem ein vollkommen reales Element an Wärme: ihr Dalmatiner Lara - eine anhängliche Begleitung und kein angsteinflößender Wachhund. "Mit ihr habe ich es immer geschafft, vor die Tür zu gehen. Und wenn es das Einzige war, was ich am Tag gemacht habe."

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