Gewalt in der Pflege "Halt dein Maul, sonst kommst du ins Heim"

Wenn Pflegende schimpfen und drohen, wird selten darüber gesprochen. Wenn Pflegebedürftige beißen und kratzen, genauso wenig. Zu groß sind Scham und Schuldgefühle. Ein Portal bietet jetzt Hilfe in Krisensituationen.
Gewalt in der Pflege: Zur körperlichen Gewalt gehören Schlagen und Schütteln oder die Fixierung mit Gurten am Bett

Gewalt in der Pflege: Zur körperlichen Gewalt gehören Schlagen und Schütteln oder die Fixierung mit Gurten am Bett

Foto: Corbis

Der alte Mann ist verwirrt. Er tigert unruhig durch die Wohnung, schon zweimal ist er weggelaufen. Seine Tochter versorgt ihn, aber sie muss auch ihre Kinder zur Schule bringen, einkaufen gehen. Sie schließt den Vater in sein Zimmer ein, damit nichts passiert. Das ist nicht in Ordnung, sie weiß es. Doch was soll sie anderes tun?

Die alte Frau ruft ständig: "Ich will nach Hause, ich will nach Hause." Ihre Tochter erklärt ihr, dass sie daheim ist - einmal, zweimal, hundertmal. Die Frau ruft weiter, bis die Tochter brüllt: "Halt endlich dein Maul, sonst kommst du ins Heim."

Gewalt in der Pflege hat viele Gesichter: Drohung mit Heim oder Psychiatrie, Vorwürfe wie "Du machst mein Leben kaputt" und Beschimpfungen. "Eine typische Form ist die Missachtung der Bedürfnisse alter Menschen", sagt der Gerontopsychiater Rolf Hirsch, Gründer von "Handeln statt Misshandeln", der Bonner Initiative gegen Gewalt im Alter.

Solche Missachtung lässt Situationen schnell eskalieren. Ein Beispiel: Der ambulante Pflegedienst kommt morgens zu einer Frau, um sie zu waschen und anzuziehen. Das Zeitfenster bis zum Folgetermin ist eng. Die Frau will aber noch nicht gewaschen werden. Sie wehrt sich. Die Pflegerin hält sie fest, schrubbt schnell Körper und Gesicht ab, die Frau fängt an, um sich zu schlagen.

Formen der Gewalt

Zur körperlichen Gewalt gehört Schlagen und Schütteln oder die Fixierung mit Gurten am Bett. Doch auch Vernachlässigung oder Nahrungsentzug, finanzielle Ausbeutung, die Missachtung der Intimsphäre und Medikamentenmissbrauch sind nichts anderes als Gewalt.

Viele Pflegende schämen sich für ihr Verhalten, werden von Schuldgefühlen geplagt. Deshalb ist es so schwer, über gewalttätiges Handeln zu sprechen. Doch nur wenn solche Vorfälle ans Licht kommen, lassen sich Lösungen finden, bevor die Situation weiter eskaliert.

Bundesweit gibt es mehrere Initiativen, die Krisentelefone betreiben. Betroffene können dort anrufen, wenn sie Opfer von Gewalt sind oder selbst gewalttätig wurden. Die Beratung ist vertraulich und auf Wunsch anonym. Das Problem: Die meisten dieser Notruftelefone sind nur an einzelnen Tagen stundenweise besetzt. "Wenn sich jemand überwunden hat, anzurufen, soll er nicht recherchieren müssen, welches Krisentelefon gerade besetzt ist", sagt Ralf Suhr, Vorstand des Zentrums für Qualität in der Pflege (ZQP) in Berlin.

Um das zu ändern und über Gewalt in der Pflege aufzuklären, hat das ZQP ein Portal  aufgebaut. Es informiert zu den verschiedenen Formen von Gewalt, beantwortet häufige Fragen und nennt Warnsignale. Auf der Startseite wird die Nummer eines aktuell erreichbaren Krisentelefons angezeigt.

In kritischen Situationen kreativ werden

"Die Krisentelefone sind wichtig", sagt Michael Wunder, Leiter des Beratungszentrums Alsterdorf in Hamburg. Viele Pflegende fühlten sich isoliert, mit der Aufgabe alleingelassen. "Sie sind häufig völlig überfordert, ohne es sich einzugestehen. Stress und Überlastung führen dazu, dass Beziehungen erodieren." Liebe könne sich in Abneigung und Hass verwandeln. "Wenn Pflegende denken: 'Warum muss ich diese schreckliche Aufgabe machen?' und sagen: 'Das lass ich mir nicht länger bieten!', ist Hilfe von außen wichtig", sagt Wunder. Die Krisentelefone könnten eine erste Anlaufstelle sein.

Die Mitarbeiter hören zu und ermutigen. Auf Wunsch nennen sie Ansprechpartner vor Ort, die helfen, Pflege neu zu organisieren. "Pflegende brauchen Auszeiten", sagt Hirsch. Wird der Vater zwei Tage pro Woche in einer Tagespflegeeinrichtung betreut, kann sich die Tochter um sich selbst kümmern.

Hirsch erzählt von einem demenzkranken Mann, der beschloss, einen Berg zu besteigen. Seine Tochter hätte versuchen können, ihm dieses Vorhaben auszureden - wahrscheinlich mit wenig Erfolg. Sie hätte schimpfen oder ihn einschließen können. Stattdessen schlug sie zur Stärkung eine Brotzeit vor und picknickte mit dem Vater im Wohnzimmer. Er vergaß dabei den Berg.

Das Beispiel zeigt, wie wichtig es ist, in kritischen Situationen gelassen zu bleiben und kreativ zu werden. Doch so etwas klappt eben nur, wenn Pflegende nicht ständig unter Stress stehen.

Gewalt in der Pflege - Hintergrundinformationen

Es gibt ein paar Untersuchungen und viele Schätzungen zum Ausmaß häuslicher Gewalt in der Pflege. Auf dem Portal pflege-gewalt.de sind einige Zahlen zusammengestellt. In einer Studie  mit 254 pflegenden Angehörigen gaben 48 Prozent an, bereits selbst psychisch misshandelt zu haben, 19 Prozent berichteten, dass sie in der Vergangenheit körperlich gewalttätig geworden waren. Das Forsa-Institut befragte  im Juli dieses Jahres im Auftrag des ZQP 503 Personen, ob sie sich bei der Pflege einer nahestehenden Person schon einmal unangemessen verhalten haben. 21 Prozent antworteten mit "Ja, einmal", weitere 14 Prozent mit "Ja, mehrmals".
Bei einer Befragung  von 81 Pflegenden aus acht Altenheimen erklärten 70 Prozent, dass sie sich in der Vergangenheit problematisch gegenüber Heimbewohnern verhalten haben, 37 Prozent schilderten Formen körperlicher und verbaler Misshandlung, 20 Prozent körperliche Gewalt. Doch auch Pflegebedürftige werden gewalttätig. In einer Studie  gaben 63 Prozent der Beschäftigten in der stationären Pflege an, im letzten Jahr Gewalt erfahren zu haben. In der ambulanten Pflege berichteten 40 Prozent von solchen Erlebnissen.

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