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Spiel mit der Sucht: Wie Automaten abhängig machen

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Glücksspielsucht Zocken bis zum Zusammenbruch

Fast 200.000 Menschen sind in Deutschland spielsüchtig, die meisten zocken an Automaten. Die Geräte besitzen das größte Suchtpotential, trotzdem werden sie vom Staat nicht reguliert. Der Grund: Es geht um Milliarden von Euro.

Dennis K.s Karriere als Spielsüchtiger begann in einem Imbiss in der Nähe von Bremen. Zwischen Pommes und Bierkrügen sah der 17-Jährige einen Geldspielautomaten, in dem noch Geld war. Dennis drückte einen Knopf und 170 Mark prasselten in den Ausgabeschacht. Er war angefixt und begann regelmäßig zu spielen. "Für diese Momente habe ich alles vergessen, was um mich herum war", erzählt er in einem YouTube-Video, mit dem er andere über seine jahrelange Spielsucht aufklären will.

Mit einem Gewinn beginnen die meisten Spielerkarrieren - mit dem Verlust von Familie, Freunden, Arbeitsplatz oder gar dem Leben enden viele. Angesichts ihrer riesigen Schuldenberge sehen manche keinen anderen Ausweg als den Suizid, unter allen Suchtkranken haben Glücksspielsüchtige die höchste Selbstmordrate.

Dennis ist einer von derzeit 193.000 Abhängigen in Deutschland. Zählt man auch jene hinzu, die mindestens einmal im Laufe ihres Lebens spielsüchtig waren, sind es 530.000 Menschen, wie eine Studie von Suchtforschern an der Universität Lübeck ergab.

Klingelnde Automaten lösen Glücksgefühle aus

Automaten sind für viele die Einstiegs- und auch meist die Enddroge, sie sind die gefährlichste Variante des Glücksspiels. Die Hemmschwelle ist niedrig: Schon mit 20 Cent ist man an einem der 236.000 Geldspielautomaten in Deutschland dabei. Etwa jeder zwölfte Automatenspieler wird zum Problem- oder Suchtspieler. Beim Lotto ist es nur jeder 300. Spieler. Süchtige unterliegen der Illusion, die Sucht kontrollieren zu können. Gewinnen sie, machen sie weiter, weil sie an eine Glückssträhne glauben und ihre Hormone sie pushen. Verlieren sie, machen sie auch weiter - um den Verlust wieder hereinzuholen.

Bekannt ist, dass der Botenstoff Dopamin eine zentrale Rolle einnimmt, wenn Süchte entstehen - auch bei der Glücksspielsucht. Das auch als Glückshormon bezeichnete Dopamin aus dem Zwischenhirn wird etwa bei Gewinnen am Automaten vermehrt ausgeschüttet und regt das Belohnungssystem an. "Im Laufe der Zeit reicht allein die Erwartung des Gewinns aus, um es zu aktivieren", sagt Klaus Wölfling, Psychologe an der Spielsuchtambulanz Mainz.

Das Gefühl ist so gut, dass man es wieder und wieder erleben möchte. Gleichzeitig brennen sich dem Gehirn die Begleitreize ein: Das Klingeln der Automaten, der Geruch im Casino, das grelle Licht - das alles kann plötzlich Glücksgefühle auslösen, weil der Körper in dieser Umgebung zuvor eine angenehme Erfahrung gemacht hat. Besonders perfide: Manche Casinos leiten die Automatengeräusche bis auf die Straße, um Spieler anzulocken.

Zudem führen neuronale Veränderungen dazu, dass die Ausschüttung von Dopamin bei anderen Aktivitäten nicht mehr ausreicht - irgendwann macht nur noch Spielen glücklich. Das Belohnungssystem der Süchtigen stumpft ab, so Wölfling. Selbst Gewinne aktivieren es nicht mehr, nur noch die Erwartungshaltung und das Spielen selbst. "Auch die hohen Verluste nehmen die Süchtigen nicht mehr wahr."

Vor allem Jugendliche sind gefährdet. Eine Untersuchung in Rheinland-Pfalz ergab, dass zwei Drittel aller minderjährigen Spielsüchtigen Geldautomatenspieler sind und in Gaststätten oder Spielhallen ihr Geld einsetzen - ein klares Versagen des Jugendschutzes. Noch viel weniger Kontrolle und Jugendschutz besteht bei Online-Glücksspielen. Theo Baumgärtner, Leiter des Büros für Suchtprävention in Hamburg, führte 2009 eine Befragung unter Hamburger Schülern durch. Das erschütternde Ergebnis: Jeder zehnte 14- bis 18-Jährige gibt regelmäßig Geld für Glücksspiele aus. Ganz oben auf der Beliebtheitsskala stehen Online-Poker und -Sportwetten.

Männer mit riskanten Verhaltensweisen

"Prinzipiell kann es jeden treffen", sagt Tobias Hayer, Suchtforscher an der Universität Bremen. Bestimmte Personengruppen sind jedoch besonders gefährdet, wie Wissenschaftler um den Suchtforscher Hans-Jürgen Rumpf von der Universität Lübeck im Rahmen der Page-Studie (Projekt Pathologisches Glücksspielen und Epidemiologie) bei der Untersuchung von 15.000 Menschen herausgefunden haben:

  • 90 Prozent sind Männer
  • 85 Prozent sind unter 30 Jahre
  • 80 Prozent sind starke Raucher
  • 65 Prozent haben einen Migrationshintergrund
  • 50 Prozent sind Alkoholiker
  • 50 Prozent haben eine Depression
  • 20 Prozent sind arbeitslos

Ob Begleiterkrankungen und -süchte dabei Ursache oder Folge der Spielsucht sind, ist unklar. Dass neun von zehn Süchtigen männlich sind, erklärt Hayer damit, dass Männer generell eher zu riskanten Verhaltensweisen neigten. "Frauen haben eine höhere Hemmschwelle, in eine Spielhalle, eine Spielbank oder ein Wettbüro zu gehen", so der Suchtforscher.

Viele Spielsüchtige werden kriminell, um ihre Sucht zu finanzieren, sie sind weniger produktiv oder werden arbeitslos. Und sie brauchen psychologische Hilfe. Das kostet die Gesellschaft viel Geld - wie viel ist umstritten. Tilman Becker, Leiter der Forschungsstelle Glücksspiel an der Universität Hohenheim, schätzt die Summe auf jährlich 326 Millionen Euro, das "Forschungsinstitut für Glücksspiel und Wetten" kommt auf ähnliche Zahlen.

Ingo Fiedler hingegen, Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler von der Uni Hamburg, rechnet mit einer viel höheren Summe pro Jahr: mit 40 Milliarden Euro. Seiner Ansicht nach wurden in den Forschungseinrichtungen die immensen Ausgaben der Betroffenen für ihre Sucht nicht berücksichtigt. Viele Spielsüchtige verzocken nahezu ihr gesamtes Einkommen und häufen im Schnitt Schulden in Höhe von 25.000 Euro an. Unberücksichtigt bleibe in den Schätzungen auch das psychische Leid der Betroffenen.

"Eine Eigentumswohnung verzockt"

Die Höhe der Kosten ist nicht nur unter Wissenschaftlern ein strittiger Punkt, er birgt auch politischen Sprengstoff. Denn den Ausgaben stehen staatliche Einnahmen von 3,3 Milliarden Euro gegenüber. Der Staat ist oberster Croupier in Deutschland: Er besitzt das Monopol auf Lotterien und Sportwetten und vergibt Konzessionen an Spielbanken. Über die Gewerbesteuer verdient der Staat zudem 1,2 Milliarden Euro an Geldspielautomaten, die dem freien Gewerbe unterliegen. Das Bundesverfassungsgericht urteilte 2008, das staatliche Glücksspielmonopol sei nur haltbar, wenn zugleich eine staatliche Suchtprävention stattfinde.

Doch im Beirat des Forschungsinstituts für Glücksspiel und Wetten  sitzen zahlreiche Vertreter der Automatenwirtschaft, die auch Geldgeber sind und die Kostenanalyse in Auftrag gegeben haben. "Ich habe den Eindruck, dass dieser Umstand Einfluss auf die Forschung hat", sagt der Wirtschaftswissenschaftler. Möglicherweise diene das Institut nur der "Verwässerung der Forschungslandschaft". Zu wie viel Prozent die Wirtschaft das Institut finanziert, dazu wollte es auf Anfrage keine Stellung nehmen. Auch im Beirat der Forschungsstelle der Uni Hohenheim  sitzen Vertreter der Spielbanken und der staatlichen Lotto-Toto GmbH.

So kritisierte der ehemalige Präsident der Deutschen Gesellschaft für Suchtforschung und Suchttherapie, Jobst Böning, kürzlich auf einem Glücksspielsucht-Kongress in Hamburg die massive Einflussnahme der Spielindustrie auf Forschung und Politik. Die Zustände ähnelten den jahrzehntelangen Verschleierungsversuchen der Tabakindustrie hinsichtlich der Gefahren des Rauchens, so Böning. Die Automatenbranche versuchte zudem mit Spenden an Parteien des gesamten politischen Spektrums, strengere Auflagen zu verhindern, wie die "Süddeutsche Zeitung" berichtete .

Hohe Abbrecherquote in der Therapie

Die Industrie verdient mit dem Glücksspiel Milliarden. "Gerade im gewerblichen Automatenspiel wurden die Spielanreize in den vergangenen Jahren deutlich erhöht und gesetzliche Bestimmungen systematisch umgangen", sagt Suchtforscher Hayer. Mehr als die Hälfte der Einnahmen kommen durch Süchtige, schätzt Wirtschaftswissenschaftler Ingo Fiedler. Jobst Böning wirft der Automatenbranche daher vor, "ein Geschäft mit Kranken" zu betreiben.

Das Therapieangebot in Deutschland ist allerdings gut aufgestellt: "Mittlerweile haben wir in Deutschland ein breites Spektrum an professionellen Hilfemöglichkeiten", so Hayer. Nach dem Glücksspielstaatsvertrag wurden in allen Bundesländern eigene Ambulanzen und Beratungsstellen für Spielsüchtige eingerichtet. Bei den Anonymen Spielern gibt es zudem Unterstützung in Form von Selbsthilfegruppen.

Zuvor waren Spielsüchtige lange wie Alkohol- und Drogensüchtige betreut worden. Doch es gibt Besonderheiten: "Spielsucht ist ein Männerproblem, und es ist oft noch eine Migrationsproblematik vorhanden - das muss man bei der Ansprache der Betroffenen berücksichtigen", sagt Martina Schu, die die Suchtberatung in Hessen ausgewertet hat. Auch müssen Spielsüchtige erst wieder ein normales Verhältnis zum Geld entwickeln, betont Hayer, meist brauchen sie noch eine Schuldnerberatung. Dass noch Verbesserungsbedarf in der Therapie besteht, zeigt die hohe Abbrecherquote: Mehr als die Hälfte der Behandlungen enden vorzeitig, wie eine Auswertung in Hessen ergab.

Dennis ist seit sechs Jahren clean. Mehr als 14.000-mal wurde sein YouTube-Video angeklickt, Spielsüchtige schrieben Kommentare und dankten ihm für seinen Mut. Wie viel Dennis im Lauf seiner jahrelangen Spielsucht verzockt hat, weiß er nicht genau, "wahrscheinlich war es eine Eigentumswohnung". Aber das spielt für ihn jetzt keine Rolle mehr: "Ich habe zehn Jahre meines Lebens verpasst", sagt er. Jetzt will er endlich leben.

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