Jesper Juul antwortet Meine Tochter klaut - was soll ich tun?

Die Neunjährige ist aufgeschlossen, intelligent und wirkt zufrieden. Doch sie stiehlt. Der besorgten Mutter rät der Familientherapeut Jesper Juul: Bitten Sie Ihre Tochter um Hilfe.
Das Sparschwein im Blick (Symbolbild): Was tun, wenn das Kind klaut?

Das Sparschwein im Blick (Symbolbild): Was tun, wenn das Kind klaut?

Foto: Corbis

Ihre Erziehungsfrage: Auf unseren Leseraufruf hin haben Sie uns viele Fragen an den Familientherapeuten Jesper Juul geschickt. Daraus haben wir in der Redaktion einige ausgewählt und dem Pädagogen geschickt. Hier antwortet er in einer losen Serie.

Eine Mutter fragt: Ich habe zwei Kinder (9 und 4) und bin in Teilzeit (25 Stunden pro Woche) berufstätig. Mein Mann arbeitet in Frankreich und ist daher nur am Wochenende zu Hause. Meine Tochter (9) ist ein wahnsinnig liebes, herzensgutes und hochsensibles Mädchen. Wir haben ein sehr enges Verhältnis. Sie bekommt Taschengeld, mit dem sie machen darf, was sie möchte (wir halten uns an die Tabelle des Jugendamts). Ohnehin bekommt sie sehr viele Geschenke. Sie ist gut in der Schule, fröhlich und hat viele Freundinnen. Mit ihrem Bruder versteht sie sich bestens.

Vor Kurzem hat sie bei den Nachbarn das Handy eingesteckt und mir erzählt, die Tochter der Nachbarn habe es ihr geschenkt. Was aber nicht stimmte, wie sich später herausgestellt hat. Sie hat auch schon herumliegende 20 Euro eingesteckt. Als ich das Geld später gesucht habe (wohl wissend, dass der Schein in ihrem Geldbeutel lag), hat sie es dann aber "gefunden". Sie nimmt auch Geld aus ihrer Spardose und sagt dann, sie habe es auf der Straße gefunden, um sich einen Wunsch zu erfüllen (kurz nach Weihnachten).

Ich frage mich jetzt, ob ihr etwas fehlt (nicht materiell, sondern von uns Eltern). Sie schreiben, wenn ein Kind lügt, dann weil es weiß, dass die Eltern mit der Wahrheit nicht umgehen können. Was kann ich jetzt tun? Und: Muss ich mir Sorgen machen?

Jesper Juul antwortet: Wie Sie sicherlich wissen, gehen viele Kinder durch eine Phase, in der sie etwas wegnehmen oder stehlen. Daher ist das allein zunächst kein Grund, alarmiert zu sein. Wie Sie selbst sagen, ist es dennoch wichtig, dieses Verhalten ernst zu nehmen, neugierig und interessiert zu sein und zu versuchen zu verstehen, was da vor sich geht. Die Tatsache, dass Ihre Tochter in Bezug auf die Diebstähle lügt, ist ein gutes Zeichen. Denn damit zeigt sie Unrechtsbewusstsein.

Zur Person
Foto: Anja Kring

Der dänische Familientherapeut Jesper Juul ist Autor von mehr als 25 Büchern über Kindererziehung, Familienleben und Pubertät. Eines seiner Standardwerke ist "Das kompetente Kind". Der Pädagoge meint: "Kinder müssen nicht großgezogen werden, sie brauchen empathische Führung, während sie älter werden."

Die Frage aber bleibt: Warum tut ein ausgeglichenes und intelligentes Mädchen wiederholt Dinge, von denen es weiß, dass sie falsch sind? An Ihrer Stelle würde ich mich mit ihr hinsetzen und etwas in diese Richtung sagen: "Wir wissen beide, dass du Dinge genommen hast, die dir nicht gehören, und wir wissen beide, dass das falsch ist, weil es andere Menschen verletzt und sie traurig und wütend macht. Ich habe ziemlich viel darüber nachgedacht, warum du das tust, aber ich weiß es einfach nicht. Mein erster Gedanke war, dass es vielleicht etwas in unserer Familie gibt, das dich unglücklich macht. Um herauszufinden, was es ist, brauche ich deine Hilfe. Hilfst du mir?"

Ich bin mir sicher, dass sie einwilligen wird, obwohl es für sie eine sehr unangenehme Situation ist. Stellen wir uns vor, sie antwortet: "Nein, es ist nichts." Dann könnte Ihre Antwort lauten: "Wirklich? Ich kann mir nur schwer vorstellen, dass unsere Familie perfekt ist. Aber vielleicht ist sie das für dich?" Oder Sie fragen: "Was geht durch deinen Kopf, wenn du anderen etwas wegnimmst?". Ihre Antwort wird höchstwahrscheinlich "Nichts" oder "Ich weiß nicht" sein.

Der Punkt ist, dass sie vermutlich selbst keine psychologische Erklärung für ihr Verhalten hat. Aber Ihre offenen und interessierten Fragen werden sie dazu bringen, darüber nachzudenken. Und wenn Sie das Gespräch kurz halten und es nach ein paar Tagen wieder aufnehmen, wird Ihre Tochter (oder Sie) möglicherweise Antworten haben. Vielleicht hört sie auch einfach auf zu klauen. Wenn sie damit aufhört - was ich für wahrscheinlich halte -, können wir daraus nicht schließen, dass sie nicht genug Aufmerksamkeit von Ihnen bekommen hat.

Aber wenn Kinder Verhaltensweisen entwickeln, die nicht zu ihrem Charakter passen, brauchen sie immer unser Interesse und unsere Aufmerksamkeit. So wie wir ihre Hilfe brauchen, sie und uns selbst zu verstehen.

Viel Glück!

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Foto: Beltz

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