Persönlichkeit "Die Narzisstin ist ein menschliches Chamäleon"

Make-Up-Kontrolle in der Öffentlichkeit: Weiblicher Narzissmus spielt sich zwischen Leistung, Attraktivität und Anpassung ab
Foto: Corbis
Bärbel Wardetzki ist Psychotherapeutin in München mit Schwerpunkt Ess-Störungen, Sucht, Kränkung und narzisstischen Selbstwertproblemen. Sie hat zwei Bücher zum Thema Narzissmus verfasst: "Weiblicher Narzissmus: Der Hunger nach Anerkennung" und "Eitle Liebe: Wie narzisstische Beziehungen scheitern oder gelingen können."
SPIEGEL ONLINE: Frau Wardetzki, was ist ein Narzisst?
Wardetzki: Narzissmus ist eine Spielart der Persönlichkeit, die bei jedem unterschiedlich stark ausgeprägt ist. Unter positivem Narzissmus versteht man ein stabiles Selbstwertgefühl. Ein narzisstischer Mensch aber hat darin ein Defizit. Das kompensiert er, indem er sich ein Größenselbst erschafft, mit dem er sich identifiziert.
SPIEGEL ONLINE: Dem Narzissten sagt man drei Eigenschaften nach: Hybris, Hunger nach Bestätigung und mangelnde Empathie.
Wardetzki: Das mit der Empathie stimmt nur bedingt. Für einen narzisstischen Menschen dienen andere Menschen in erster Linie dazu, ihm zu applaudieren und ihn zu bestätigen. Ansonsten sind sie uninteressant. Das kann man als Empathiemangel sehen. Andererseits besitzt ein Narzisst eine sehr feinfühlige Wahrnehmung dafür, wie er bei anderen ankommt. Das ist eine Form der Empathie, aber eine, die nur ihm selbst dient.
SPIEGEL ONLINE: Das klingt nach Prominenten und Politikern. Findet man unter ihnen vermehrt Narzissten?
Wardetzki: Narzisstische Menschen sind meist sehr intelligent, eloquent, können sich gut verkaufen und sind oftmals bestrebt, Macht zu erlangen, um ihr Selbstwertgefühl zu stärken. Man findet unter Prominenten und Politikern natürlich Narzissten, aber nicht alle sind automatisch welche. Ich denke, um an diese Jobs zu kommen, braucht man einfach gewisse narzisstische Fähigkeiten.
SPIEGEL ONLINE: Journalisten attestieren Machtmenschen gerne Narzissmus, vor allem gescheiterten. Zum Beispiel Uli Hoeneß .
Wardetzki: Fast jeder, der Erfolg hat und sich präsentiert, wird heute gleich als Narzisst bezeichnet. Narzissmus ist ein Modewort geworden.
SPIEGEL ONLINE: Apropos Journalisten und Prominente: Wie gehen Narzissten eigentlich miteinander um?
Wardetzki (lacht): Entweder sie sonnen sich in der Berühmtheit des anderen, oder sie bekämpfen sich, um selber besser dazustehen.
SPIEGEL ONLINE: Wie wird man ein Narzisst?
Wardetzki: Die Eltern geben das Größenselbst häufig schon vor. Ihr Kind soll etwas Besonderes sein. Damit kompensiert es in Wahrheit das narzisstische Defizit der Eltern. Die Folge ist, dass sich das Kind verlassen fühlt und sich zunehmend mit dem Bild identifiziert, das die anderen von ihm haben wollen. Ein Narzisst ist nicht in Kontakt mit sich, wie er wirklich ist, sondern nur mit der Vorstellung von sich, wie er sein soll.
SPIEGEL ONLINE: Was würden Sie Eltern raten?
Wardetzki: Es ist schwerer gesagt als getan, aber das Beste ist, wenn man sich ehrlich hinterfragt, wie viel eigene Sehnsüchte man in sein Kind hineinlegt. Und wie viel man von diesem Kind akzeptieren kann, so wie es ist. Alles, was man sich dadurch bewusst macht, ist schon nicht mehr so schädlich und hilft, dass das Kind ein autonomer, selbstbewusster und glücklicher Mensch wird.
SPIEGEL ONLINE: Was spielt noch eine Rolle bei der Ausbildung einer narzisstischen Struktur?
Wardetzki: Es sind viele Faktoren: die Geschwister, die Stellung in der Familie, wie dort Beziehungen gelebt werden, ob das Kind verlassen wurde von einem Elternteil. Und letztlich die Umwelt: Wir haben eine narzisstische Gesellschaftsstruktur, die diese Fähigkeiten quasi verlangt.
SPIEGEL ONLINE: Befördert unsere Leistungsgesellschaft Narzissmus? Oder haben Narzissten einfach mehr Erfolg in diesem System?
Wardetzki: Sowohl als auch.
SPIEGEL ONLINE: Hat der Narzissmus zugenommen?
Wardetzki: Ich bin davon überzeugt, dass es in der Menschheitsgeschichte schon immer Narzissmus gegeben hat. Aber jede Zeit lebt ihn anders. Durch das Internet haben wir mittlerweile neue Spielwiesen. Früher hieß es: Bin ich im Fernsehen? Heute kann jeder alles ins Netz stellen. Die Darstellungsmöglichkeiten haben zugenommen. Und ich glaube, wir sind uns des Narzissmus bewusster geworden. Insofern, ja, vielleicht hat er zugenommen.
SPIEGEL ONLINE: Hat es dadurch eine Umbewertung des Begriffs gegeben, der eigentlich immer negativ belegt war? Dass ein einfacher Ein-Fragen-Test funktioniert , der darauf abzielt, dass ein Narzisst ehrlich darauf antwortet, ob er einer ist oder nicht, lässt das vermuten.
Wardetzki: Ich bezweifle das. Im Übrigen muss man sich die Studie genau anschauen: Welche Personen wurden ausgewählt, wie alt waren sie? Wenn ich einen meiner Patienten das fragen würde, wäre der sofort zur Tür raus. (Das Durchschnittsalter der Befragten in der Studie war tendenziell jung: 28 Prozent waren im Schnitt 20 Jahre alt (Studenten), 21 Prozent hatten ein Durchschnittsalter von 36 Jahren, 51 Prozent waren im Schnitt 45 Jahre alt. - d. Red.)
SPIEGEL ONLINE: Was für Probleme bekommt ein Narzisst?
Wardetzki: Soziale Beziehungen sind schwierig, weil er sich immer in den Vordergrund stellt, andere kritisiert und abwertet, immer alles besser weiß. Das provoziert entweder Aggression oder Anpassung
SPIEGEL ONLINE: Kann man Narzissten helfen?
Wardetzki: Erst, wenn sie in Not sind durch Jobverlust, Trennung, Krankheit oder Ähnlichem. Man kommt sehr schwer an sie heran. Sobald sie kritisiert werden, fangen sie an zu kämpfen. Die meisten haben große Angst, etwas zu verändern, weil ihr narzisstisches System ihnen so viel Positives bringt, dass sie es nicht aufgeben wollen. Viele missbrauchen die Therapie auch, um sich psychologische Tricks abzuschauen und ihr System zu perfektionieren.
SPIEGEL ONLINE: Gibt es Unterschiede zwischen den Geschlechtern?
Wardetzki: Ja, das hat kulturelle Wurzeln. Der männliche Narzisst ist eher von der grandiosen, machtbetonten Form. Die Narzisstin definiert sich mehr über Leistung, Perfektionismus, Attraktivität und Anpassung. Sie ist ein menschliches Chamäleon. Sie kommt in einen Raum, spürt genau, was gerade angesagt ist und kann sich perfekt in die Situation einfügen. Dahinter würde man erstmal keinen Narzissten vermuten, aber sie hat auch ein tiefes Selbstwertdefizit und versucht es über die Anpassung und Perfektion zu kompensieren. Der Unterschied: Die Narzisstin spürt ihren Minderwertigkeitskomplex eher als der Narzisst.
SPIEGEL ONLINE: Was tut man, wenn man einen Narzissten als Chef hat?
Wardetzki: Das ist eine echte Herausforderung an das eigene Selbstwertgefühl. Je stärker ich bin, umso besser kann ich mich ihm gegenüber positionieren. Wenn ich aber auf seine Bestätigung und sein Lob angewiesen bin, sitze ich in der Falle. Dann muss ich leiden oder gehen.