Psychologie "Optimisten sind im Vorteil"

Daniel Kahneman: Wer zuversichtlich ist, gibt nicht so schnell auf
Foto: ? Fred Prouser / Reuters/ REUTERSSPIEGEL ONLINE: Professor Kahneman, kann man Zuversicht lernen?
Kahneman: Aber natürlich. Das zeigen schon die großen Unterschiede zwischen den Kulturen: In Ländern wie Ungarn oder Frankreich wirken ausgesprochen zuversichtliche Menschen leicht ein bisschen dumm oder naiv. In den USA dagegen wird es geradezu erwartet, dass man Optimismus zeigt. Das ist kulturell geregelt. Und in einem gewissen Maß gilt, wie für alle Gefühle: Wer sie nicht zeigt, empfindet sie auch nicht.
SPIEGEL ONLINE: Wir sollen uns nur tapfer optimistisch geben, und dann kommt die Zuversicht von alleine?
Kahneman: So einfach ist das sicher nicht. Die Frage ist, ob sich Optimismus überhaupt kurzfristig antrainieren lässt. Soweit ich das überblicke, gibt es bislang keine Belege für größere oder gar nachhaltige Effekte. Die wären auch nur schwer zu ermitteln. Wenn Leute auf Optimismus getestet werden und sie wissen, worum es geht, dann wird der Test auch Optimismus finden. Das ist ein allgemeines Problem bei solchen Versuchen. Man bräuchte einen objektiven Beobachter, der die betreffende Person nur oberflächlich kennt und gar nicht weiß, dass sie sich einem Training unterzogen hat. Wenn der dann sagt: "Oh, dieser Mensch wirkt jetzt zuversichtlicher!" - dann wäre ich überzeugt.
SPIEGEL ONLINE: Spielt die Vererbung eine Rolle?
Kahneman: Sicher. Sowohl die Lebenszufriedenheit als auch der Optimismus haben eine starke genetische Komponente.
SPIEGEL ONLINE: Wer zu den Glücklichen zählt, scheint nur Vorteile davon zu haben. Zahllose Studien zeigen, dass Optimisten länger leben, gesünder sind, mehr Freunde haben.
Kahneman: Es ist aber sehr unklar, ob der Optimismus jeweils die Ursache ist oder einfach eine Begleiterscheinung. Ich schätze eher, es gibt etwas, das hinter beidem steckt. Andererseits kennen wir sehr wohl ein paar Dinge, die der Optimismus selbst bewirkt, aber das sind nicht viele.
SPIEGEL ONLINE: Welche zum Beispiel?
Kahneman: Mein Kollege Martin Seligman hat mal ein schönes Experiment gemacht mit Schwimmern an der University of Berkeley, Weltklasseleute darunter. Er ließ sie schwimmen, so schnell sie konnten, und dann nannte er ihnen falsche Zeiten. Sie mussten annehmen, sie seien langsamer gewesen, als sie in Wirklichkeit waren. Für die meisten war das entmutigend, beim nächsten Versuch schwammen sie tatsächlich langsamer. Anders diejenigen, an denen Seligman zuvor eine optimistische Veranlagung festgestellt hatte. Einige von ihnen wurden danach sogar besser.
SPIEGEL ONLINE: Optimisten werden besser mit Rückschlägen fertig?
Wer gut drauf ist, spielt besser
Kahneman: Ja, sie geben nicht so schnell auf. Das kann oft entscheidend sein. Wenn ich eine Fußballmannschaft unterstütze, dann möchte ich, dass sie glaubt, gewinnen zu können. Denn dann spielt sie besser.
SPIEGEL ONLINE: Gut drauf zu sein, ist ja wohl auch sonst ein beträchtlicher Überlebensvorteil. Ist das der Grund dafür, dass die Evolution den Optimismus hervorgebracht hat?
Kahneman: Natürlich sind Optimisten evolutionär im Vorteil. Aber Vorsicht: Wenn man so einen realen Menschen vor sich hat, ist es sehr schwer, bei ihm die zuversichtliche Lebenshaltung von anderen erfreulichen Dingen zu unterscheiden. Er wird allgemein glücklicher sein, er hat ein besseres Immunsystem, das geht alles zusammen. Man sollte es wohl besser umgekehrt sehen: Nicht unbedingt der Optimismus ist nützlich, sondern die Depression ist schädlich. Wenn Sie unter Depressionen leiden, ist das definitiv sehr schlecht für Ihre Zukunft .
SPIEGEL ONLINE: Zu viel Optimismus kann aber ebenfalls Schaden anrichten. In Ihrem neuen Buch* schildern Sie unter anderen, welche Folgen entfesselte Zuversicht für die Wirtschaft hat - Firmenchefs etwa überschätzen chronisch ihr Können und verkennen die Risiken.
Kahneman: Ja, sie glauben, für sie gelten die Statistiken nicht. In den USA sind nach einer Studie 81 Prozent der Unternehmensgründer überzeugt, ihre Aussichten seien gut; ein knappes Drittel glaubt sogar, das Risiko eines Scheiterns sei gleich null. Dabei überleben hier nur 35 Prozent der kleinen Firmen die ersten fünf Jahre.
SPIEGEL ONLINE: Dennoch nennen Sie den Optimismus den "Motor des Kapitalismus".
Kahneman: Dass so viele Gründungen scheitern, muss ja fürs Ganze nicht unbedingt schlecht sein.
SPIEGEL ONLINE: Worin besteht denn der Nutzen der verkrachten Unternehmer?
Kahneman: An Ihnen können Sie lernen, welche Fehler Sie vermeiden sollten. Sie sind, wie Kollegen mal gesagt haben, die "Märtyrer des Optimismus". Denken Sie an die Expeditionen zum Südpol, die so viele Opfer gefordert haben - es hilft den Nachfolgenden zu wissen, wie und woran die Vorgänger gestorben sind.
SPIEGEL ONLINE: Also alles halb so schlimm?
Kahneman: Nun, wenn Großkonzerne leichtsinnig werden, kann der Schaden gewaltig sein. Auch sie treffen häufig Entscheidungen, die von übersteigertem Selbstvertrauen getragen sind. Sehr beliebt sind riskante Übernahmen anderer Firmen. Immer wieder wird das versucht, auch wenn es noch so oft schiefgeht. Der Chef überschätzt einfach seine Fähigkeiten. Die Anleger können in solchen Fällen viel Geld verlieren.
SPIEGEL ONLINE: Wenn reale Verluste drohen, sollten sich hyperoptimistische Eskapaden doch verhindern lassen.
Kahneman: Es gäbe schon Mittel und Wege. Unglücklicherweise erfordern sie Anstrengung und die Bereitschaft zur Selbstkritik auf der höchsten Ebene des Managements, deshalb sind sie nicht sehr verbreitet.
SPIEGEL ONLINE: Welche Mittel meinen Sie?
Kahneman: In der Ölindustrie zum Beispiel werden regelmäßig strenge Entscheidungsverfahren angewendet. Jede neue Bohrung ist ja eine gigantische Wette auf einen ungewissen Erfolg; wer sich da auf die Intuition verlässt, kann sehr viel Geld verlieren. Deshalb beschäftigen Firmen wie Shell oder Chevron Tausende von Leuten nur dafür, die besten Entscheidungen zu treffen. Diese füttern Computer mit ihren Daten, und dann beginnt ein genau festgelegter Bewertungsprozess, in dem es nach Schwellenwerten und ausgetüftelten Algorithmen geht. Und die Firmen haben die Disziplin, sich jedesmal an diese strengen Abläufe zu halten.
SPIEGEL ONLINE: Warum gerade die Ölfirmen?
Kahneman: Das Bohren nach Öl ist ja keine besonders emotionale Angelegenheit. Und die Entscheidung, wo man es versucht, muss immer wieder getroffen werden, es ist immer wieder das gleiche Problem. Da fällt es leichter, stur nach einer mechanischen Prozedur vorzugehen. Ganz anders ist das aber, wenn irgendwo in der Wirtschaft wichtige, große Einzelentscheidungen anstehen: Kaufen wir den Konkurrenten auf oder nicht? Da läuft es am Ende oft auf die Intuition des Chefs hinaus. Und genau deshalb geht das so oft schief.
SPIEGEL ONLINE: Kann man nichts dagegen tun?
Kahneman: Man kann es versuchen. Einen sehr einleuchtenden Trick hat sich mein Kollege Gary Klein ausgedacht. Er ist für den Zeitpunkt gedacht, wenn eine Entscheidung schon unterschriftsreif ist. Kurz zuvor ruft man noch einmal ein paar der wichtigsten Beteiligten zusammen und gibt ihnen folgende Aufgabe: "Wir haben den Plan umgesetzt, das ist jetzt ein Jahr her. Das Ergebnis war ein Desaster. Schreiben Sie in fünf bis zehn Minuten auf, wie es dazu gekommen ist."
SPIEGEL ONLINE: Sie nennen das ein "Premortem", also eine Art Obduktion noch zu Lebzeiten.
Kahneman: So ist es. Ich denke nicht, dass ein Projekt nur deswegen wieder aufgegeben würde. Aber man würde es vielleicht vorsichtiger angehen, Schutzvorkehrungen treffen, eine zusätzliche Versicherung abschließen. Die Idee ist wirklich gut, und ich denke, sie wird angewendet werden. Sie kann ja auch gar nicht schaden, nur nützen.
SPIEGEL ONLINE: Könnte man stattdessen nicht einfach in der Firma die Planstelle eines Leitenden Pessimisten einrichten?
Kahneman: Viele Unternehmen haben ja längst Leute, die von Berufs wegen eher pessimistisch sind, es gibt Controller und Anwälte und dergleichen. Aber die sind tendenziell unbeliebt, und wenn es um Entscheidungen aus dem Bauch heraus geht, werden sie nach Möglichkeit umgangen. Die Schönheit des Premortem ist es ja gerade, dass Pessimisten dafür gar nicht nötig sind. Vielmehr fordert es die Zuversichtlichen heraus: Diejenigen, die das Projekt unbedingt durchziehen wollen, sollen selbst noch einmal mit dem Schlimmsten rechnen.
*Daniel Kahnemann: "Thinking, Fast and Slow". Farrar, Straus & Giroux, New York; 500 Seiten; 30 Dollar (die deutsche Ausgabe erscheint im Mai im Siedler Verlag)