Krise in Spanien Die psychologischen Folgen der Schuldenberge

Wartende Männer vor der Essensausgabe: Mehr Spanier kämpfen mit Schlaflosigkeit
Foto: Emilio Morenatti/ ASSOCIATED PRESSDie Abenddämmerung hat bereits eingesetzt, die Straßenbeleuchtung schaltet sich gerade ein, als es vor dem Krankenhaus Carlos Haya im spanischen Málaga plötzlich eine grelle Stichflamme gibt: Ein Mensch steht in Flammen.
Schnell eilen Taxifahrer herbei und ersticken den Brand mit Feuerlöschern. Das 57-jährige Opfer wird mit Verbrennungen dritten Grades in ein Krankenhaus eingeliefert und später nach Sevilla verlegt, 80 Prozent seiner Hautoberfläche sind betroffen. Einen Tag später, am 3. Januar, stirbt der Marokkaner an seinen Verletzungen. Augenzeugen erzählten der spanischen Presse, der Mann habe sich mit Benzin übergossen und selbst angezündet. Ein Zeitungsverkäufer berichtete, das Opfer habe ihm zuvor erzählt, wie verzweifelt er sich aufgrund seiner Arbeitslosigkeit fühle.
Spektakuläre Suizide im Zusammenhang mit der Wirtschaftskrise gab es bereits einige in Spanien. Mitte Dezember erhängte sich ein 47-jähriger Mann in Málaga, als seine Wohnung zwangsgeräumt werden sollte. Nur einen Tag zuvor, ebenfalls in Málaga, tötete sich eine 56-jährige Frau aus dem gleichen Grund, indem sie sich von ihrem Balkon stürzte. Zwei ähnliche Fälle gab es im November 2012 im Baskenland, im Oktober kam es in Spanien zu vier Suiziden, die in Zusammenhang mit Zwangsräumungen standen.
Insgesamt 13 im Zusammenhang mit der Krise stehende Suizide in ganz Spanien listet die Organisation Teléfono de la Esperanza, Telefon der Hoffnung, für 2012 auf.
Die Betroffenen hatten schon vor der Krise psychische Probleme
Trotzdem warnen Experten davor, solche Suizide in direkten Zusammenhang mit der aktuellen wirtschaftlichen Lage zu stellen. "Wenn man die Einzelfälle genauer untersucht, kommt man immer zu dem Schluss, dass es bereits zuvor psychische Probleme bei diesen Menschen gab", sagt der Soziologe Juan Carlos Pérez Jiménez, Autor des Buches "Der Blick des Selbstmörders" ("La mirada del suicida"). "Ganz offensichtlich trägt die Krise zu einem Anstieg psychischer Erkrankungen bei. Sie kann als Auslöser für den Suizid durchaus eine Rolle spielen. Aber sie als alleinige Ursache anzugeben, hieße nicht nur, die Dinge zu vereinfachen, es ist hinsichtlich der Gefahr eines Nachahmungseffektes sogar fahrlässig."
Ähnlich äußerte sich Alexandra Fleischmann von der Weltgesundheitsbehörde im Vorfeld des internationalen Suizidpräventionstages im September 2012. Auf die Frage nach dem Zusammenhang zwischen ansteigenden Suizidversuchen und der wirtschaftlichen Krise sagte sie, sie gehe davon aus, dass die meisten Betroffenen bereits zuvor anfällig gewesen waren und dass die wirtschaftliche Krise den Leidensdruck erhöht habe.
Laut Statistik der Weltgesundheitsbehörde töten sich weltweit etwa eine Million Menschen pro Jahr selbst. Im internationalen Vergleich liegt Spanien auf einem der hinteren Plätze. So töten sich im Vergleich zu Deutschland etwa ein Drittel weniger Menschen: sechs im Vergleich zu neun pro 100.000 Einwohner. Im Vergleich zu Finnland sind es sogar dreimal weniger: Sechs im Vergleich zu 18 pro 100.000 Einwohner. Allerdings stammt die letzte offizielle Angabe für Spanien aus dem Jahr des Krisenbeginns, 2010, und beziffert die Zahl der Selbsttötungen mit 3158. Im Jahr zuvor hatten sich noch 3429 Menschen in Spanien das Leben genommen. Die Tendenz war damals fallend gewesen, wie auch schon in den Jahren zuvor.
Falschmeldungen über starken Anstieg der Suizidzahlen
"Dass das Thema heute so aktuell scheint, liegt auch am Verhalten der Medien", meint Juan Carlos Pérez Jiménez. "Spektakuläre Selbsttötungen kommen leicht auf die Titelseiten. In diesem Zusammenhang kam es aber auch immer wieder zu Falschmeldungen, vor allem, was den prozentualen Anstieg der Suizide betrifft." Das bestätigt der Direktor des gerichtsmedizinischen Institutes in Barcelona, Jordi Medallo, der in manchen spanischen Presseberichten als Quelle angegeben wurde: "Letzten Sommer geisterten Zahlen von einem Anstieg der Selbsttötungen in Katalonien um 60 Prozent durch die Presse. Das ist falsch." Vielmehr sei die Zahl gegenüber dem Vorjahr sogar minimal zurückgegangen. Generell gäben solche Vergleiche nur über einen viel längeren Zeitraum Sinn.
Dennoch zeigt sich die spanische Gesellschaft beim Thema Suizid und Wirtschaftskrise hoch sensibilisiert. Denn jeden Tag töten sich im Schnitt etwa neun Menschen im Land, und bei drei dieser Suizide sehen Psychiater einen Zusammenhang zur wirtschaftlichen Lage der Opfer.
"Die Krise ist eine wahre Bedrohung für die geistige Gesundheit unserer Bürger," sagte Miguel Gutiérrez, Präsident der spanischen Gesellschaft für Psychiatrie, beim Verbandskongress im September. "Die wirtschaftlichen Aussichten sind schlecht. Die Gesellschaft ist verzweifelt, das führt zu vielen ernsten Problemen. Selbstmord ist der äußerste Ausdruck von Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit. Und Menschen, die ihr Haus verlieren, die arbeitslos sind und keine Einkünfte haben, sind verzweifelt. Das merken wir an steigenden Patientenzahlen." Depressionen, Schlaflosigkeit und Angstzustände hätten seit Krisenbeginn zugenommen.
Genaue Zahlen darüber gibt es allerdings noch nicht - wohl aber zum Arbeitsmarkt, und da tat sich im neuen Jahr etwas: Die Zahl der bei den Behörden gemeldeten Arbeitssuchenden ging im Dezember 2012 um 1,2 Prozent auf knapp 4,85 Millionen zurück. Wie das Arbeitsministerium in Madrid Anfang Januar mitteilte, ist das der stärkste Rückgang aller Zeiten für den Monat Dezember.