Depression und Traumabewältigung Die dunkle Seite der Psychotherapie

Eine Patientin beim Psychotherapeuten: Kaum einer ist sich der Risiken bewusst
Foto: CorbisSigmund Freud legte großen Wert auf Ehrgeiz: Ein Psychoanalytiker arbeite mit explosiven Kräften. Deshalb müsse man Gewissenhaftigkeit im Umgang mit seinen Patienten an den Tag legen. Dass es in einer Psychotherapie im übertragenen Sinne zu Explosionen kommen oder deren heilende Wirkung gar ganz ausbleiben kann, wurde über Jahrzehnte aber nicht beachtet. Während der Beipackzettel über Risiken und Nebenwirkungen von Medikamenten aufklärt, sind Fehlschläge in der Psychotherapie eine große Unbekannte.
Diese Lücke versuchen Wissenschaftler nun zu schließen. "Wir wissen ja, dass Psychotherapie funktioniert", sagt Bernhard Strauß vom Institut für Psychosoziale Medizin und Psychotherapie am Universitätsklinikum Jena. "Warum sollten wir also nicht stärker nach negativen Auswirkungen gucken?" sagt er. Auf dem Kongress der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN) in Berlin stellte er vergangene Woche mit Kollegen die aktuellsten Erkenntnisse über die Schattenseite von Psychotherapie vor.
Stillstand oder Verschlechterung?
Einzelne Studien lassen deren Ausmaße erahnen. So zeigte etwa jüngst eine Untersuchung von Experten der Schön Klinik Roseneck in Prien am Chiemsee, dass es knapp jedem vierten Patienten mit Depressionen nach einer Behandlung in einer Klinik ähnlich schlecht ging wie zuvor. Bis zu drei von 100 Patienten klagten nachher sogar über mehr Beschwerden.
In der ambulanten Therapie ist die Häufigkeit von Misserfolg noch höher, wie der Studienleiter Ulrich Voderholzer anhand anderer Studien offenbart. Beinahe jeder zweite Patient zeigte nach einer Therapie keine oder kaum Verbesserung und bei bis zu elf Prozent der Patienten verschlechterte sich einer weiteren Studie zufolge die Symptomatik. "Mit solchen Zahlen wollen wir die Psychotherapie nicht schlecht machen", sagt Voderholzer, "aber wir müssen uns mit diesen Misserfolgen auseinandersetzen, um dazu zu lernen."
Schädliche Methoden entlarven
So sollen psychologische Methoden entlarvt werden, die eher kontraproduktiv sind. Wie etwa das sogenannte Debriefing: Direkt nach schweren Unfällen oder Naturkatastrophen versuchten Psychologen mit Betroffenen oder Zeugen, das traumatische Erlebnis aufzuarbeiten und sie dadurch etwa vor einer Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) zu schützen. Tatsächlich erlebten die behandelten Menschen nach drei Jahren deutlich häufiger noch belastende Erinnerungen an die Katastrophe als unbehandelte Beteiligte.
Auch Gruppentherapie birgt ein erhöhtes Risiko für Nebeneffekte. "Patienten können sich unter anderem gegenseitig anstecken. Die Hoffnungslosigkeit von einem Depressiven etwa kann abfärben", sagt Strauß. Bei manchen würden zudem durch den Bericht eines anderen Patienten bedrückende Erinnerungen wieder wachgerufen. Dazu käme, dass Psychologen selten eine spezielle Ausbildung für diese komplexe Behandlungsform hätten.
Schieflaufen kann also einiges in der Psychotherapie. Michael Linden, Vorsitzender des Deutschen Fachverbandes für Verhaltenstherapie, kennt die möglichen Szenarien. Ihm zufolge ist nicht immer der Therapeut schuld, auch eine korrekt durchgeführte Therapie hat Begleiterscheinungen. Neben klassischen Behandlungsfehlern oder falschen Diagnosen, kann sich der Patient durch die Behandlung auch verändern - woran Beziehungen zerbrechen können. Manche Patienten brechen die Therapie selbst ab, oder erleiden nach Kurzem wieder einen Krankheitsrückfall. Ebenso ist es nicht ungewöhnlich, dass ein Patient zwischenzeitlich depressiver wird, schlicht weil ihn die Behandlungsgespräche aufwühlen.
Die Beziehung zwischen Patient und Therapeut muss stimmen
"Insgesamt hat die Psychotherapie ähnlich viele Nebenwirkungen wie eine Psychopharmakatherapie", sagt Yvonne Nestoriuc, Psychologin von der Philipps-Universität Marburg. Das gelte selbst für eine der wirksamsten Therapiemethoden überhaupt, die sogenannte Exposition bei Angsterkrankungen. Dabei werden die Patienten mit dem Gegenstand oder der Situation konfrontiert, die bei ihnen die übermäßigen Gefühle auslöst. Bei manchen könne aber genau das die Angst vertiefen, sagt Nestoriuc.
In einer bisher unveröffentlichten Studie zeigen Nestoriuc und ihre Kollegen zudem, wovon negative Effekte einer psychologischen Behandlung vor allem abhängen. In einer Befragung von mehr als 670 ehemaligen Patienten aus ambulanter und stationärer Psychotherapie machte es keinen Unterschied, wie lange die Therapie dauerte, ob die Behandlung verhaltenstherapeutisch oder tiefenpsychologisch war. Bedeutsam für das Therapieergebnis hingegen war, wie gut die Beziehung zwischen Therapeut und Patient war, wie schwer die Erkrankung war und ob der Patient bereits schlechte Therapieerfahrungen gemacht hatte. Ebenso scheint es unerheblich zu sein, ob der Therapeut noch in Ausbildung ist oder bereits langjährige Erfahrung mit Patienten hat, wie eine Untersuchung an der Technischen Universität Dresden mit mehr als 1700 Patienten zeigte.
Ein Beipackzettel für Psychotherapie
Ab Januar fordert das neue Patientenrechtegesetz mehr Informationen für Patienten. "Ärzte wie Psychotherapeuten müssen dann vorher ausführlich und verständlich über unerwünschte Auswirkungen der Behandlung aufklären", sagt der Präsident der Bundespsychotherapeutenkammer, Rainer Richter. Das soll auch mancher Nebenwirkung vorbeugen. Der Therapeut müsse vor allem auf die individuelle Situation des Patienten eingehen, fordert die Psychologin Nestoriuc. Könnte dessen Partnerschaft in Gefahr sein, müsste er darauf hingewiesen werden. Nur dann könne er selbst gezielt auf Veränderungen in der Beziehung reagieren.
An der österreichischen Universität Krems wurde schon vor drei Jahren eine Art Beipackzettel für Psychotherapie entwickelt, der in Arztpraxen des Landes ausliegt. Darin steht, wie Psychotherapie genau wirkt und welche Risiken und Nebenwirkungen sie haben kann. "Aber wir müssen aufpassen, dass all diese Informationen Patienten nicht abschrecken", sagt Nestoriuc. "Die allermeisten Psychotherapien haben schließlich Erfolg."