Sexueller Missbrauch Die Kinder schützen - und die potenziellen Täter

Wie viele Kinder werden sexuell missbraucht? Ein deutsches Forschungsprojekt zeigt das Ausmaß des Problems. Wo Prävention ansetzen kann und warum die Ausgrenzung von Pädophilen falsch ist - die Ergebnisse.
Missbrauchtes Kind (Archivbild aus Haiti): Jeden Tag 40 Opfer in Deutschland

Missbrauchtes Kind (Archivbild aus Haiti): Jeden Tag 40 Opfer in Deutschland

Foto: Spencer Platt/ Getty Images

Pro Tag werden etwa 40 Kinder in Deutschland Opfer von sexuellem Missbrauch - so die Polizeiliche Kriminalstatistik. Doch das sind bei Weitem nicht alle Übergriffe.

Psychologen und Mediziner aus Regensburg, Bonn, Hamburg, Ulm und Dresden haben deshalb nachgeforscht. Sie haben untersucht, was unterhalb des Polizei-Radars geschieht. Die Ergebnisse sind bemerkenswert.

Das Mikado-Projekt  offenbart in drei großangelegten, anonymen Befragungen eine genauere Schätzung zum tatsächlichen Ausmaß der Vergehen. Und es liefert Ansatzpunkte, wie sich sexueller Missbrauch verhindern lässt - auf Seiten der Opfer und der Täter.

Wer sind die Opfer?

Eine der Mikado-Befragungen von rund 8000 jungen Erwachsenen zwischen 18 und 30 Jahren ergab: Knapp jeder Zwölfte wurde als Kind sexuell missbraucht. Dazu zählen sowohl Delikte, bei denen die Kinder berührt wurden als auch exhibitionistische Akte. Im Durchschnitt waren die Mädchen bei dem ersten Vorfall 10,5 Jahre alt, die Jungen nur 7,9 Jahre. Der Mikado-Erhebung zufolge werden vor allem Kinder aus Familien mit vielen Problemen Opfer sowie jene aus Großstädten.

Wer sind die Täter?

Mikado zeigt: Den "typischen Kindesmissbraucher" gibt es nicht. Ein Drittel der Täter stammt aus der eigenen Familie. Einige waren als Kinder selbst Opfer von Übergriffen, andere nicht. Die Mehrheit verhält sich auch in anderen Lebensbereichen entgegen sozialer Normen. Nicht wenige haben generell ein besonders großes Verlangen nach Sex und Beziehungen fallen ihnen schwer.

Eine Tätergruppe wird oft übersehen: Frauen. Die Hälfte aller Männer und zehn Prozent der Frauen, die als Kinder sexuell missbraucht wurden, berichten von einer Täterin. In bis zu sieben von 100 Fällen war die biologische Mutter übergriffig - deutlich öfter als Stiefväter (vier Prozent) und nicht viel seltener als der biologische Vater (bis zu neun Prozent).

Was die Studie auch offenbart: Pädophilie ist nicht gleichzusetzen mit einer Täterschaft. In einer Befragung mit knapp 8700 Männern ab 18 Jahren schätzte mehr als jeder Fünfte Kinder als sexuell attraktiv ein. Immerhin 4,4 Prozent hatten schon einmal sexuelle Fantasien mit Kindern unter zwölf Jahren. Nur ein Prozent aller Befragten erfüllte die Kriterien für die Diagnose Pädophilie; weniger als die Hälfte dieser Männer wurde zum Täter. Hingegen offenbarten jene, die Kinder nicht bevorzugten und keine Pädophilie-Diagnose erfüllten, deutlich häufiger sexuelle Übergriffe gegenüber Kindern.

"Die Mikado-Studie zeigt deutlich, dass allein das sexuelle Interesse an Kindern nicht automatisch zum sexuellen Kindesmissbrauch führt, sondern es vielen Betroffenen gelingt, ihr Verhalten zu kontrollieren", betont auch Jens Wagner. Er ist Sprecher des Präventionsnetzwerkes "Kein Täter werden", das am Universitätsklinikum Charité in Berlin initiiert wurde, um Menschen mit Pädophilie vor dem Ausleben ihrer Neigung zu bewahren.

Wie können Kinder besser geschützt werden?

"Die wirksamste Prävention von sexuellem Missbrauch von Kindern und Jugendlichen ist es, diese in vielerlei Hinsicht aufzuklären, vor allem jene, die besonders gefährdet sind", sagt die Psychologin und Projektleiterin Janina Neutze von der Universität Regensburg. "Kinder über Sexualität und ihren Körper zu informieren und dabei aufzuzeigen, wann Grenzen überschritten werden, sollte schon zu Beginn der Grundschule stattfinden." Sind Kinder noch nicht aufgeklärt, könnten sie oft nicht einschätzen, was genau mit ihnen passiert, welche Handlungen nicht in Ordnung sind und es folglich auch nicht abwehren oder später das Erlebte mitteilen

Teil der Aufklärung sollten auch Online-Chatforen sein. In der Mikado-Befragung mit mehr als 2200 Jugendlichen zwischen 14 und 17 Jahren berichteten sechs Prozent der Mädchen und zwei Prozent der Jungen im vergangenen Jahr eine unangenehme Erfahrung im Internet gemacht zu haben. Sie wurden etwa gedrängt Nacktbilder von sich zu senden, vor der Web-Kamera sexuelle Handlungen durchzuführen, über Sex zu sprechen oder sie erhielten pornografische Fotos beziehungsweise eindeutige Aufnahmen vom Chatpartner. Jeder vierte Jugendliche traf die Online-Bekanntschaft persönlich, in jedem zehnten Fall mit sexuellem Kontakt. Zwei Prozent der befragten Jugendlichen empfanden das Treffen als belastend.

Dies zu wissen und die Strategien der Täter zu kennen, kann die jungen Menschen schützen. "Viele Täter versuchen emotionale Intimität zu erzeugen, indem sie den Kindern und Jugendlichen gezielt das Gefühl geben, etwas Besonderes zu sein. Dadurch verliebten sich diese schnell in den Kontakt, speziell jene, die sonst keine Vertrauensperson in ihrem Umfeld haben", sagt Studienautorin Neutze. Typische Methoden sind der Befragung zufolge außerdem, die Minderjährigen zu überreden, niemandem von dem Chat zu berichten oder ihnen Geschenke zu machen.

Wie lassen sich potenzielle Täter von der Tat abhalten?

So wie mögliche Opfer vor einem Übergriff geschützt werden sollen, müssen auch potenzielle Täter davon abgehalten werden, tatsächlich eine Straftat zu begehen.

Problematisch ist dabei, dass viele Pädophile und Kinderschänder gleichsetzen. Das könne die befürchteten Übergriffe sogar begünstigen, sagen Projektleiterin Neutze ebenso wie Wagner aus Berlin. Fast die Hälfte der Allgemeinbevölkerung befürwortet laut Mikado eine vorsorgliche Inhaftierung von Männern, die sexuell an Kindern interessiert sind, mehr als ein Viertel wünschten selbst jenen, die Kindern nichts taten, den Tod.

Die Folge: "Wenn jemand von seinem Umfeld aufgrund seiner sexuellen Interessen abgelehnt wird, nicht darüber offen sprechen kann, kapselt er sich ab", erklärt Wagner. Welche Auswirkungen das haben kann, verdeutlicht er am Beispiel von Rauchern, die von den Zigaretten loskommen wollen: Wer es allein probiert, sich dem inneren Drang zu widersetzen, werde eher scheitern. Wer sein Umfeld informiere, erhöhe die soziale Kontrolle, werde von diesem Unterstützung erhalten, um am Ball zu bleiben und nicht wieder anzufangen.

"Viele Betroffene denken sich: Wenn die Gesellschaft mich sowieso für den letzten Dreck hält, wobei soll mir dann eine Therapie helfen? Sie zweifeln daran, selbst etwas zum Positiven verändern zu können", sagt Wagner. Viele flüchteten sich in Alkohol oder Drogen, was wiederum ihre Kontrollfähigkeit mindere, wodurch die Gefahr für das Ausleben sexueller Fantasien erhöht werde.

Er und auch die Studienautoren des Mikado-Projekts fordern, Minderheiten wie Pädophile nicht für ihre sexuelle Neigung zu verurteilen, die sie sich nicht ausgesucht hätten. Zugleich seien mehr therapeutische Angebote für sie nötig. Derzeit gibt es nur in elf deutschen Städten je eine spezialisierte Anlaufstelle für diese Menschen. "Die Pädophilie lässt sich nicht wegtherapieren oder auslöschen, aber sie kann wirksam behandelt werden", sagt Jens Wagner von der Charité.

Niemand sei verantwortlich für seine sexuelle Neigung, aber jeder für seine sexuellen Handlungen.

Wo Betroffene Hilfe finden

Opfer von sexuellem Missbrauch finden Unterstützung sowie eine Übersicht über Beratungsstellen in der eigenen Region unter www.hilfeportal-missbrauch.de .

Menschen mit sexuellem Interesse an Kindern können sich an www.kein-taeter-werden.de  wenden.

Zur Autorin
Foto: privat

Jana Hauschild ist Psychologin und arbeitet als freie Journalistin in Berlin.

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