
Psychotherapie via Handy: Dein Therappeut auf allen Wegen
Psychotherapie via Handy Therapeut in der Hosentasche
Ein lauter Knall oder der Geruch von Verbranntem genügen: Plötzlich ist die Erinnerung wieder da - und mit ihr das Gefühl. Als stünde man wieder mitten in einem Bombengefecht, schnürt Angst die Kehle zu. So geht es vielen Soldaten, die nach einem Kriegseinsatz an Posttraumatischer Belastungsstörung (PTBS, engl.: PTSD) leiden. In einer solchen Situation wäre professionelle Hilfe nötig. Doch der Psychotherapeut kann nicht jederzeit zur Stelle sein. Eine Smartphone-App aber schon, dachten sich Mitarbeiter eines US-Ministeriums.
Das U.S. Department of Veterans Affairs (Kriegsveteranen-Ministerium) bietet seit einiger Zeit kostenlos ein Handy-Programm zum Herunterladen an, das Veteranen mit PTSD den Umgang mit den Symptomen im Alltag erleichtern soll. Ein Klick genügt, und der "PTSD-Coach" startet psychotherapeutische Übungen, mit denen der Betroffene beruhigt und abgelenkt werden soll. Im Notfall stellt die App eine Verbindung zu einer Selbsthilfe-Hotline oder zu einem engen Angehörigen her.
Dem US-Ministerium zufolge nutzen bereits etwa 50.000 Menschen aus 60 Ländern diese App. Sie ist eine der ersten ernstzunehmenden psychotherapeutischen Anwendungen für Mobiltelefone, die frei im Internet zur Verfügung steht - und womöglich der Beginn einer neuen Ära in der Psychotherapie.
Was kann ein Handy leisten?
Die Forschung auf diesem Gebiet boomt. Immer wieder veröffentlichen Psychologen und Informatiker Studien zu Handy-Programmen, die bei psychischen Problemen helfen sollen - von Alltagsstress bis Schizophrenie, von Prävention bis Therapieersatz. Allerdings werden die meisten Anwendungen bisher nur in Studien eingesetzt. Dennoch glauben Forscher, dass sie sich bald im Alltag bewähren und viele Vorteile bieten könnten. Denn der Gang zum Psychotherapeuten ist für viele eine Hürde. Apps könnten eine Brücke bauen.
So hat etwa auch der "PTSD-Coach" den Zweck, Betroffene behutsam an eine Psychotherapie heranzuführen. "Die Forschung hat gezeigt, dass Soldaten mit PTSD eine Behandlung scheuen, weil sie sich oftmals schämen", sagt Julia Hoffman, Psychologin am National Center for PTSD , einem Institut des US-Ministeriums. Eine App herunterladen und ausprobieren dagegen ist anonym. Das erleichtere den Schritt in eine richtige Therapie, sagt Hoffman.
Auch Margaret Morris hofft mit Apps mehr Menschen helfen zu können, als bisher durch traditionelle Therapieangebote möglich ist. Die Psychologin forscht für den Technologieriesen Intel derzeit an einer Handy-Anwendung, die den täglichen Stresspegel senken soll . Morris Wunsch für die Zukunft: Allen denen Beistand zu bieten, die diesen benötigen. "Wann immer jemand Probleme hat, sich mit etwas herumquält, soll diese Person psychologische Unterstützung erhalten - auch ohne, dass eine psychische Störung vorliegt. Mit Apps ist das möglich", sagt sie.
Die App ergänzt den Therapeuten
Therapeutische Übungen und Tagebücher via App können auch für Menschen, die bereits in Behandlung sind, eine wichtige Unterstützung sein. Studien haben gezeigt, dass vor allem Jugendliche ihre Therapie-Hausaufgaben viel zuverlässiger ausführen , wenn sie dafür ihr Handy nutzen können.
Ganz neu ist der Ansatz nicht: Vor zehn Jahren entdeckte das Team um Stephanie Bauer vom Universitätsklinikum Heidelberg das Handy als Therapieunterstützung. Früher per SMS, inzwischen über eine App, können Patienten mit Essstörungen unter anderem Tagebuch führen. "Unsere Programme helfen den Patienten, auch nach dem Klinikaufenthalt nicht wieder in ein gestörtes Essverhalten zurückzufallen", sagt Bauer.
Während in Deutschland und Europa vor allem Internet- und Handyprogramme zur Vorbeugung von Essstörungen und Unterstützung bei Depressionen im Visier der Forscher sind, geht in den USA der Trend zur App, die von allein auf die Stimmung der Patienten reagiert: Ein drastisch ansteigender Puls oder eine schwitzige Haut - Stresssymptome, die darauf hindeuten, dass der Betroffene sich aufregt, werden von Sensoren an Fußgelenk und Brust sofort registriert und ein Signal wird an das Mobiltelefon gesandt. Dort erscheinen dann therapeutische Nachrichten, die den Betroffenen beruhigen sollen. An einer solchen Anwendung für Personen mit PTSD arbeitet derzeit eine Forschergruppe aus Massachusetts .
Zwischen den Therapiestunden an sich arbeiten
Ständig verfügbare Übungen, Peilsender und andauernde Pulskontrolle: Greift die Therapie mit Hilfe von Apps nicht zu stark in den Alltag? Nein, sagt der deutsche Psychotherapieforscher Martin Bohus. Er untersucht am Zentralinstitut für Seelische Gesundheit in Mannheim ebenfalls den Einsatz von Apps in der Psychotherapie bei PTSD. Die Trainings zwischen den Sitzungen hält er für essentiell. "Die Patienten lernen in der Therapie vor allem den Umgang mit ihren Emotionen. Das ist sehr komplex, etwa wie Klavierspielen lernen. Einmal pro Woche übt man mit dem Klavierlehrer. Aber allein von den paar Stunden mit ihm wird man die filigranen Fingerbewegungen nicht erfolgreich lernen", erklärt Bohus. "Man muss zwischen den Terminen immer wieder trainieren."
Einzelne App-Übungen könnten bei manchen Patienten sogar bald den Termin mit dem Therapeuten überflüssig machen: Psychologen an der Harvard University entwickelten die mobile Version eines Aufmerksamkeitstrainings , das zur Behandlung von sozialen Ängsten eingesetzt wird. In einer Studie sollten Probanden dreimal täglich für knapp zwei Minuten auf dem Smartphone mit dem Programm üben. Ihre Angstsymptome nahmen im Vergleich zu einer Kontrollgruppe ohne Training deutlich ab.
Wird der Therapeut also nutzlos? Eher nicht, sagt Harvard-Psychologe Philip Enock: "Vielen Patienten ist der Kontakt zu einem menschlichen Therapeuten wichtig. Und den Beweis, dass die App allein wirkt, haben wir noch nicht geliefert."
Smartphone-Therapie bald auch in Deutschland?
Ob als vorbeugende Maßnahme, Therapiebegleitung oder gar Therapeutenersatz - Apps sind vor allem eins: kostengünstig. Für Enock ist das einer der entscheidenden Vorteile. "Um Millionen Menschen mit Psychotherapie zu behandeln, benötigt man Tausende Therapeuten. Um die gleiche Menschenzahl mit einer App zu behandeln, benötigt man einige Forscher und einen Software-Spezialisten."
Dennoch schätzt der Psychotherapieforscher Bohus die Kosten für die Entwicklung einer einzigen App auf mehrere hunderttausend Euro. Ein Betrag den hierzulande keiner investieren will, weil wohl kaum eine Krankenversicherung für eine Behandlung mit den Programmen bezahlen würde. "In Deutschland ist die Psychotherapie noch sehr traditionell", sagt Bohus. "Nicht einmal Online-Therapie wird von Krankenkassen bezahlt, obwohl diese schon seit Jahren in der Forschung Erfolge zeigt."
Dennoch glaubt der Psychiater, dass die Handy-Anwendungen auch in Deutschland bald unabdingbar werden. "Der Trend geht zur gestuften Versorgung: Bevor jemand eine ambulante Therapie erhält oder gar in einer Klinik therapiert wird, werden dem Betroffenen niedrigschwelligere Maßnahmen angeboten. Dazu zählen dann Selbsthilfegruppen und eines Tages sicherlich auch Apps."