Wir machen uns mal frei Der Alptraum beim Traumdeuter

Wenn selbst das Kopfkissen gefährlich erscheint: Alpträume machen die Nacht zur Qual
Foto: CorbisIch war schweißgebadet aufgewacht, wieder und wieder. Tagsüber konnte ich mich nicht mehr konzentrieren, ich war erschöpft - alles wegen eines Alptraums. "Wenn du wieder richtig schlafen willst, musst du dahinterkommen, was dir der Traum sagen will", riet mir eine Freundin. Ich war skeptisch, aber sie machte einen Termin mit einem Traumdeuter für mich.
Der Traumdeuter wollte meinen Traum schriftlich. Hier ist er: Ich hetze zum Bahnhof, schaffe es gerade noch in den Zug. Ich bin froh, ihn erreicht zu haben, als mein Blick auf ein Schild auf der Innenseite der Zugtür fällt. Da steht Milano - doch ich will nach Paris! Ich stürze nach draußen. Renne zu einem anderen Bahnsteig. Der Pfiff des Schaffners ertönt, ich reiße die Tür des richtigen Zuges auf. Stehe schweißgebadet und glücklich am Fenster, als er losfährt. In dem Moment merke ich, dass ich mein Gepäck im ersten Zug vergessen habe. Den sehe ich behäbig aus dem Gleis in Richtung Italien rollen. Mit dem verzweifelten Gefühl, nichts tun zu können, schrecke ich aus dem Schlaf hoch.
Ich schickte den Traum an den Traumdeuter. Er gab er mir einen Termin, zu dem ich anrufen sollte. Seine Stimme klang sanft. "Herr Jötten", sagte er, "was haben Sie gefühlt, als Sie in diesem Waggon standen?" - "Panik, mein Gepäck war ja weg…" - "Können Sie dieses Gefühl näher beschreiben?" - "Na ja, ich dachte, ich muss in den anderen Zug, konnte aber nicht, meine Sachen waren weg - es war ein Scheißgefühl…." - "Welche Farbe hatte das Innere des Zugs?" - "Das war ein deutscher Intercity, die haben diese grauvioletten Sitze…" - "Was fühlen Sie, wenn Sie daran denken?" - "Die Vorstellung eines deutschen Intercity-Waggons lässt mich ehrlich gesagt relativ kalt."
"Melden Sie sich noch mal, wenn Sie über Ihre Gefühle sprechen können"
Der Traumdeuter holte tief Luft. "So funktioniert das nicht", sagte er. "Sie müssen Ihren Assoziationen freien Lauf lassen." - "Es tut mir leid, aber in meiner Vorstellung waren die Sitze nun mal nicht knatschgelb…" Der Traumdeuter klang jetzt ein wenig ärgerlich. "Welche Farbe hatte der Zug, in dem Ihr Gepäck weggefahren ist?" Glücklich, mich daran noch erinnern zu können, sagte ich: "Ein weißer Zug mit grünen Streifen, ein italienischer Fernzug!"
Der Traumdeuter war einen Moment still. Dann sagte er: "Das macht keinen Sinn, Sie sind noch nicht bereit für eine Traumdeutung." - "Vielleicht träume ich einfach relativ realistisch?", antwortete ich. "Immerhin hetze ich wirklich jedes Mal, wenn ich mit dem Zug fahre, zum Bahnhof…" - "Melden Sie sich noch mal, wenn Sie über Ihre Gefühle sprechen können", sagte er.
Was sollte das denn? Der Typ hatte wohl nichts drauf. Weder kannte er sich mit dem europäischen Schienenverkehr aus noch mit Träumen, sonst hätte er doch merken müssen: Ich habe Angst, Züge zu verpassen und Gepäck zu vergessen - und am schlimmsten für mich wäre, wenn mir beides passiert. Den Alptraum habe ich bis heute, aber nur noch sehr selten, und seitdem ich ihn habe, habe ich nie mehr etwas im Zug vergessen.