Übergewicht Geringschätzung macht Dicke psychisch krank

Zu dicken Menschen fällt jedem etwas ein: Sie sind selbst schuld, sollten sich mehr bewegen, einfach weniger essen. Leipziger Forscher haben jetzt festgestellt, dass die öffentliche Meinung die Übergewichtigen krank macht - und das Abnehmen zusätzlich erschwert.
Übergewichtige in der Öffentlichkeit: Ständig unter Beobachtung

Übergewichtige in der Öffentlichkeit: Ständig unter Beobachtung

Foto: ROB GRIFFITH/ ASSOCIATED PRESS

Krankhaft Übergewichtige haben gegenüber vielen anderen chronisch Kranken einen Nachteil: Man sieht ihnen ihr Problem an. In der U-Bahn, am Arbeitsplatz. Vom Freibad, in das sie nicht mehr gehen, ganz zu schweigen. Die Meinung vieler schlanker Menschen über Dicke ist so klar wie einfach strukturiert: Wer zu viel wiegt, ist selbst schuld, schließlich könnte er ja abnehmen.

Ausgeblendet wird dabei, dass kaum ein Verhalten so schwierig zu ändern ist wie das Essen. Was lebenslang gelernt wird und sich über Jahre oder Jahrzehnte festigt, lässt sich nur mühsam dauerhaft ändern. Erschwert wird der Versuch von einer Umwelt, die Kalorien billig und im Überfluss bereithält.

Stigmatisierung begünstigt Depression und Angst

Die negative öffentliche Wahrnehmung verstärkt die gesundheitlichen Probleme übergewichtiger Menschen, hat jetzt eine Befragung der Universität Leipzig ergeben. Mit Hilfe von Fragebögen erfassten die Wissenschaftler von 1158 übergewichtigen Deutschen, wie sie mit typischen Vorurteilen gegenüber Dicken umgehen, wie sie diese auf sich selbst anwenden, sich selbst stigmatisieren - und wie sich das auf ihr Risiko für gesundheitliche Probleme auswirkt.

Übergewichtige und adipöse - also stark übergewichtige - Menschen leiden demnach unter der Stigmatisierung ihrer Körperfülle. Selbstachtung und Selbstvertrauen nehmen ab, Ängste und Depressionen werden wahrscheinlicher, schreiben Anja Hilbert und ihre Kollegen im Fachmagazin "Obesity"  . Übergewichtige und Adipöse übernehmen laut der Studie die gängigen Vorurteile: Sie halten sich für faul, undiszipliniert und selbst schuld an ihrem Übergewicht.

Besonders stark trifft das auf Menschen zu, die über sich selbst sagen, sie seien zu dick. Zugleich steigt das Risiko für Symptome einer Angststörung oder einer Depression bei den Betroffenen. Je höher der Body-Mass-Index (BMI) der Befragten war, desto schwerwiegender wurde die Selbststigmatisierung. Frauen sind stärker betroffen als Männer.

"Wenn das negative Fremdbild zum Selbstbild wird, benötigen diese Menschen psychotherapeutische Hilfe, um das schädliche Selbststigma zu überwinden", sagt Studienautorin Hilbert. "Auch in der Behandlung der Adipositas ist es wichtig, darauf zu achten und es nicht weiter zu vertiefen." Die Leipziger Forscher fürchten, dass unter dem negativen Selbstbild auch die Bemühungen der Betroffenen leiden abzunehmen - wofür es allerdings noch keine Studienbelege gibt. Bisherige Untersuchungen lieferten dazu widersprüchliche Ergebnisse.

Ärzte und Pflegekräfte machen Dicke für ihr Leid verantwortlich

Überrascht hat die Forscher, dass stark übergewichtige Menschen nicht seltener medizinische Hilfe suchen, sondern häufiger. Das deckt sich allerdings mit früheren Untersuchungen, die steigende Krankheitskosten mit zunehmendem Übergewicht ergeben hatten. Die Hilfesuche bei Ärzten könnte auch ein Hinweis darauf sein, dass die Betroffenen nicht glauben, sich noch selbst helfen zu können - ein typisches Problem depressiver Patienten. Inwieweit auch Übergewichtige unter dieser gelernten Hilflosigkeit leiden, ist noch nicht untersucht.

Aus früheren Studien ist auch bekannt, dass Übergewichtige seltener Vorsorgeuntersuchungen und Früherkennungsprogramme nutzen als Normalgewichtige. Eine Erklärung ist, dass sie auch beim Arzt fürchten, stigmatisiert zu werden - wofür es wiederum Belege gibt: Ärzte und Pflegekräfte haben gegenüber Dicken die gleichen Vorurteile wie die Allgemeinbevölkerung. Sie sind weniger motiviert, Übergewichtige zu behandeln, und wenden für dicke Patienten weniger Zeit auf als für schlanke, schreiben die Autoren.

Die von der Uni Leipzig und dem Bundesforschungsministerium finanzierte Studie ist für Deutschland repräsentativ. Problematisch ist, dass die Befragten Körpergewicht und Größe zur BMI-Berechnung selbst angegeben haben, wodurch üblicherweise zu niedrige Werte erfasst werden. Zudem wäre eine persönliche Befragung mit einer Untersuchung des Patienten genauer als eine reine Fragebogenumfrage.

Die Forscher regen an, die Auswirkungen der Selbststigmatisierung Übergewichtiger auf das Leben der Betroffenen zu untersuchen. Nahe liegend wäre, dass die Schuldzuweisung an die Übergewichtigen, für ihre Beschwerden selbst verantwortlich zu sein, die Lösung des Problems erschweren könnte.

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