Schwangerschaftsabbrüche "Es gibt Frauen, die können sich die Pille nicht leisten"

Ulrike Busch hat viele Jahre als Professorin an der Hochschule Merseburg unter anderem zu reproduktivem Verhalten und ungewollten Schwangerschaften gelehrt und geforscht.
SPIEGEL ONLINE: Frau Busch, in Deutschland gab es im vergangenen Jahr 101.209 Schwangerschaftsabbrüche. Das sind 2,5 Prozent mehr als im Jahr zuvor. Was sagen Sie zu dieser Zunahme?
Busch: Es wäre wissenschaftlich unredlich, aus einer so kleinen Schwankung innerhalb eines so kurzen Zeitraums einen Trend abzuleiten und von einer Zunahme zu sprechen. Man muss unbedingt größere Zeiträume von etwa fünf bis zehn Jahren betrachten.
SPIEGEL ONLINE: Trotzdem sind mehr als 100.000 Abtreibungen in einem Jahr viel.
Busch: Zunächst einmal muss man sagen: Frauen sind etwa 35 Jahre in ihrer fruchtbaren Phase, und wenn sie heterosexuell Sexualität leben, dann birgt dies auch das Risiko, ungewollt schwanger zu werden. Denn kein Verhütungsmittel garantiert hundertprozentige Sicherheit, von einer richtig durchgeführten Sterilisation abgesehen. Das beschreibt der Pearl-Index .
Aber auch bei der Anwendung passieren Fehler. Wir Menschen sind keine Maschinen und Sex und Beziehung haben spontane und emotionale Komponenten. Im Alltag kann nun mal ein Kondom wegrutschen oder auch weggelassen werden oder die Pille wird vergessen. Klar: Je weniger konsequent die Verhütung, desto größer das Risiko einer ungewollten Schwangerschaft.
SPIEGEL ONLINE: Lassen sich so viele ungewollte Schwangerschaften durch Spontaneität und Vergesslichkeit erklären?
Busch: Wie gesagt - es gibt den in der Methode selbst begründeten sogenannten Pearl-Index. Viele Frauen werden tatsächlich unter Verhütung schwanger. Und: Es kann auch tieferliegende Gründe geben. Probleme in der Paarbeziehung beispielsweise, die dann in einem unbewussten Hineinsteuern in diese Situation münden, die eine klare Entscheidung verlangt.
SPIEGEL ONLINE: Verhüten denn alle Frauen, wenn sie kein Kind wollen?
Busch: Insgesamt ist das Verhütungsverhalten gut, bei den Jugendlichen sogar grandios. Doch es gibt tatsächlich ein Problem, das dringend gelöst werden sollte - und könnte! Verhütungsmittel sind keine Kassenleistung, die Pille zum Beispiel wird nur Frauen unter 21 Jahren erstattet. In Deutschland leben viele Frauen, die sehr wenig Geld zur Verfügung haben, etwa weil sie studieren oder Hartz IV bekommen. Und die können sich die Pille oder andere teure Alternativen wie die Spirale oder gar Hormonspirale nicht leisten . Deshalb gibt es tatsächlich ungewollte Schwangerschaften, wenn die Frauen dann gar nicht verhütet haben oder etwa mit Kondomen verhüten wollten, dies dann aber nicht geklappt hat. Einzelne Kommunen übernehmen zwar die Kosten, doch das müssen die Frauen erst einmal wissen!
SPIEGEL ONLINE: Wenn Verhütungsmittel eine Kassenleistung wären, würde die Zahl der Schwangerschaftsabbrüche sinken?
Busch: Ja - und meiner Einschätzung nach gehört das zu einem modernen Gesundheitssystem dazu, noch dazu, wenn man wirklich Schwangerschaftsabbrüche vermeiden will. Aber es würde immer noch Abbrüche geben. Die werden wir nie auf null reduzieren können. Es ist kurzsichtig, sich nur auf die Abtreibungen zu konzentrieren. Es geht darum, ungewollte Schwangerschaften zu verhindern.
SPIEGEL ONLINE: Warum?
Busch: Eine ungewollte oder unbeabsichtigte Schwangerschaft endet nicht unbedingt mit einem Abbruch. Etwas mehr als die Hälfte der Frauen entscheiden sich für das Austragen der Schwangerschaft. Doch ungewollt ein Kind auszutragen, ist auch nicht nur einfach. Der Konflikt kann sich auf die Partnerschaft und später auf die Beziehung zum Kind übertragen. "Sobald es da ist, kommt die Freude", müssen sich diese Frauen anhören. Das ist zwar oft so, aber nicht immer.
SPIEGEL ONLINE: Wie lassen sich denn ungewollte Schwangerschaften noch verhindern?
Busch: Auch damit, dass man über Verhütung aufklärt. Und da gibt es heute vielfältige Möglichkeiten, sich zu informieren - bei Ärzten, im Internet, in Beratungsstellen.
SPIEGEL ONLINE: Vor Kurzem führte der Berufsverband der Frauenärzte die gestiegene Zahl der Abtreibungen unter anderem darauf zurück, dass die Pille danach - die ja eine Notfallverhütung ist und kein Schwangerschaftsabbruch - nicht mehr rezeptpflichtig ist. Im Notfall können Betroffene sie einfach in der Apotheke bekommen. Was sagen Sie dazu?
Busch: Der Berufsverband unterstellt, dass die Pille danach zu einem leichtfertigeren Verhütungsverhalten führt. Dafür gibt es aber keine Belege, sondern eher Anzeichen für das Gegenteil.
SPIEGEL ONLINE: Was beeinflusst die Entscheidung zwischen dem Fortführen der Schwangerschaft oder deren Abbruch?
Busch: Da fließt sehr viel mit ein, vor allem, ob aktuell ein Kinderwunsch besteht - und die eigenen Werte und Vorstellungen vom Leben. Ob es eine Partnerschaft gibt, einen Vater, der für das Kind da sein wird. Inwieweit die Frau beziehungsweise das Paar beruflich und finanziell abgesichert sind. Und das findet alles nicht in einem luftleeren Raum statt, sondern in einer Gesellschaft, die Abtreibungen abwertet. Nach der subtilen Botschaft: "Eine gute Frau trägt aus, eine schlechte treibt ab."
Dabei muss man sagen: Auch eine Entscheidung für einen Schwangerschaftsabbruch ist verantwortungsvoll. Und niemand trifft sie mal eben so. Frauen wird oft unterstellt, dass sie diese Entscheidung leichtfertig treffen würden. Das stimmt einfach nicht. Es ist eine ganz besondere Entscheidung im Leben einer Frau, das ist den allermeisten Frauen schnell klar.
SPIEGEL ONLINE: Wie geht es den Frauen damit?
Busch: Ein Abbruch wird umso besser verarbeitet, je klarer die Frau entschieden ist und je respektierender die Bedingungen sind, auf die sie trifft. Doch auch für Frauen, die klar entschieden sind, ist es ein Abschied von einer Möglichkeit, die sie jetzt nicht leben. Dass frau da auch traurig ist, ist eher eine normale Reaktion. Aber ein Abbruch ist auch eine Chance, eröffnet Optionen - in dieser Entscheidungssituation setzen sich Frauen mit vielem auseinander.
Es stimmt übrigens nicht, dass alle Frauen nach einem Abbruch in ein Post-Abortion-Syndrom mit schweren psychischen Problemen fallen, wie es Abtreibungsgegner behaupten. Wenn durch die Abtreibung psychische Probleme entstehen, dann gab es meist schon vorher ungelöste Konfliktsituationen.
SPIEGEL ONLINE: Wir haben jetzt viel über Frauen gesprochen, was ist eigentlich mit den Männern? Schließlich gehören zum Kindermachen ja zwei.
Busch: Der Mann hat ein legitimes Recht, seine Wünsche zu formulieren. Wirkliche Konflikte zwischen den Partnern sind selten, dann jedoch durchaus tragisch, denn eine Beziehung kann daran zerbrechen. Meist aber treffen Paare die Entscheidung miteinander. Die Partner kommen dann oft mit zur Pflichtberatung. Es gibt auch Männer, die die Wahl bewusst der Frau überlassen - weil es ihr Körper ist. Die sagen dann: Ich unterstütze dich, egal wie du dich entscheidest.