Globale Bevölkerungsentwicklung Ist die Welt bald zu voll?

Megacity Osaka in Japan: Stimmt es wirklich, dass die Zeit hoher Geburtenraten vorbei ist?
Foto: Mendowong Photography/ Getty ImagesLassen Sie uns diesen Artikel mit zwei Fragen beginnen. Beantworten Sie diese bitte durch Klicken beziehungsweise Antippen der Ihrer Meinung nach korrekten Antworten:
Die Wissenslücke
Bei einer dieser Fragen danebenzuliegen, ist sicher keine Schande. Und doch zeigt sich hier ein tiefer liegendes Problem: Studien zeigen, dass die allermeisten Menschen ein falsches Bild vom Zustand der Welt haben (der schwedische Arzt und Wissenschaftler Hans Rosling hat sich zeitlebens mit diesem Thema beschäftigt. Lesen Sie hier ein Interview mit seinem Sohn, der sein Erbe weiterführt). Wir unterschätzen systematisch Fortschritte bei der Bildung, in der Armutsbekämpfung und bei der Lebenserwartung. Gefahren hingegen überschätzen wir.
Welche Auswirkungen diese Fehleinschätzungen haben können, zeigt sich an den eingangs gestellten Fragen. Wer glaubt, die Zahl der Kinder steige weltweit stark an und Menschen in Ländern wie Bangladesch seien mit hohen Geburtenraten für eine Explosion der Bevölkerung verantwortlich, der hat ein veraltetes Weltbild.
Doch was ist richtig? Stimmt es wirklich, dass die Zeit hoher Geburtenraten vorbei ist? Und wie passt das zusammen mit der immer noch starken Zunahme der Weltbevölkerung? Hier die Erklärung in Zahlen und Grafiken:
Was die Zahl der Kinder pro Frau angeht, kam es innerhalb der vergangenen hundert Jahre zu einer bemerkenswerten Entwicklung. In der vorindustriellen Zeit lag die Geburtenrate noch bei knapp sechs Kindern pro Frau, in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts dann bei rund fünf. Besonders stark war der Rückgang seit den Siebzigerjahren. Aktuell bekommen Frauen weltweit im Schnitt 2,47 Kinder.
Von einem stabilen Niveau spricht man bei einem Wert von 2,1 Kindern pro Frau, da nicht alle geborenen Kinder selbst das zeugungsfähige Alter erreichen. Die Uno-Prognose geht davon aus, dass dieser Wert um das Jahr 2065 erreicht wird.
Verantwortlich für die aktuell noch steigende Bevölkerungszahl ist demnach weniger die Geburtenrate, sondern vielmehr eine Kombination aus gestiegener Lebenserwartung und dem sogenannten demografischen Momentum: Die Bevölkerungszahl kann sich erst stabilisieren, wenn die geburtenstarken Jahrgänge der vergangenen Jahrzehnte ihre Familiengründung abgeschlossen haben. Die gesunkene Geburtenrate wirkt sich also erst mit deutlicher Verzögerung aus.
Hochentwickelte Länder haben überwiegend eine Geburtenrate von unter 2,1 - ohne Zuwanderung schrumpfen hier die Einwohnerzahlen. In Deutschland etwa gäbe es ohne Zuwanderung 2060 nur noch 65 Millionen Einwohner, Ende 2018 waren es noch 83 Millionen.
In Entwicklungs- und Schwellenländern unterscheidet sich die Situation stark je nach Region. Im arabischen Raum etwa, in Indien, in Südostasien sowie im nördlichen und südlichen Teil Afrikas liegt die Geburtenrate meist bei unter 2,5, teilweise auch bei bis zu drei Kindern pro Frau. Höhere Geburtenraten existieren nahezu ausschließlich in West-, Zentral- und Ostafrika.
Dort sind allerdings auch sehr bevölkerungsreiche Staaten wie Nigeria und die Demokratische Republik Kongo betroffen. Durch die Kombination aus großer Bevölkerungszahl und hohem Bevölkerungswachstum tragen diese aktuell noch ganz entscheidend zum prognostizierten Bevölkerungswachstum bei.
Beim Blick auf die Historie zeigt sich, wie stark der Wohlstand einer Gesellschaft und die Geburtenrate zusammenhängen. Je reicher ein Land wird, desto weniger Kinder bekommen die Menschen.
Im folgenden Diagramm wandern die Länder - durch Punkte symbolisiert - über die Jahrzehnte tendenziell von links-oben nach rechts-unten. Das zeigt: Mit steigendem Haushaltseinkommen bekommen die Frauen weniger Kinder. Sobald die Menschen die Altersvorsorge anders regeln können als mit möglichst viel Nachwuchs, bewegt sich die Geburtenrate recht zügig auf ein stabiles Niveau zu.
In Europa hat dieser Prozess im weltweiten Vergleich am frühesten begonnen. Es folgten nach und nach Nord- und Südamerika, Asien und schließlich Afrika. China unterschritt mit seiner Ein-Kind-Politik bereits um das Jahr 1992 die Schwelle von 2,1 Kindern pro Frau. Bangladesch gelang es innerhalb von 40 Jahren, die Geburtenrate von 6,8 (1975) auf unter 2,1 (2016) zu reduzieren. Die meisten afrikanischen Länder befinden sich aktuell mitten in dieser Entwicklung.
Was lässt sich daraus lernen?
Was die Entwicklung der Bevölkerung angeht, lässt sich festhalten: Ja, die Zahl der Menschen auf der Welt wird voraussichtlich noch um mehrere Milliarden zunehmen. Und dennoch stimmt das Bild von der Bevölkerungsexplosion so nicht mehr. Die Menschheit ist auf dem Weg zu einer stabilen Einwohnerzahl, die Auswirkungen dieser Entwicklung machen sich allerdings nur mit Verzögerung bemerkbar.
In vielen weiteren Bereichen der globalen Entwicklung sieht es ähnlich aus. Die meisten Menschen sind nicht mehr arm, sondern zählen zur bescheidenen Mittelschicht, die durchschnittliche Lebenserwartung weltweit liegt bei 70 Jahren und die jährliche Zahl an Opfern durch Naturkatastrophen hat sich in den vergangenen hundert Jahren halbiert.
Lernen kann man dies durch einen Blick in die Statistiken oder einen Besuch in fernen Ländern. Wer vom Sofa aus sein Weltbild hinterfragen will, kann das posthum veröffentlichte Buch "Factfulness" von Hans Rosling zur Hand nehmen.
Vielleicht gelingt es einem so, eine Wissenslücke zu schließen und nicht nur ein realistischeres, sondern auch ein positiveres Bild von der Welt zu erlangen.
Dieser Beitrag gehört zum Projekt Globale Gesellschaft
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