Lea ist sexsüchtig. Hier erzählt sie, was das bedeutet

Vor vier Jahren wurde Lea bewusst, dass sie ohne täglichen Sex nicht mehr leben kann – und Hilfe braucht.
Von Niat Asfaw

Dieser Beitrag wurde am 01.06.2018 auf bento.de veröffentlicht.

Sex ist was Schönes – für manche. Wenn Lea, die eigentlich anders heißt, an Sex denkt, löst das Gedanken aus, die sie an eine furchtbare Zeit erinnern. Denn die 32-Jährige hat eine Krankheit: Sie ist sexsüchtig. 

Vor vier Jahren wird ihr bewusst, dass sie ohne täglichen Sex nicht mehr leben kann – und Hilfe braucht. Doch der Weg zu dieser Erkenntnis ist hart.

Wir haben sie gebeten, uns ihre Geschichte von ihrer Sexsucht zu erzählen.

"Angefangen hat alles mit meinem ersten festen Freund vor knapp zehn Jahren. Ich wollte einfach zu viel Sex. Ich weiß noch, wie mein damaliger Freund witzelte, ich sei sexsüchtig. Bald aber kam der Punkt, an dem mich Sex mit ihm, egal wie viel, nicht mehr befriedigte. Ich fing an, mir Sex mit meinen Arbeitskollegen vorzustellen. 

Eines Abends passierte das: Ich landete mit einem Kollegen im Bett. Sofort spürte ich, wie viel Befriedigung mir die Abwechslung verschaffte.

Noch zweimal habe ich es danach mit Beziehungen probiert – nie habe ich es geschafft, treu zu bleiben. Verhütung wurde mir immer unwichtiger, Hauptsache, ich konnte meinem Trieb nachgehen. 

Ist Sexsucht eine Krankheit?

Ich bekam Geschlechtskrankheiten wie Tripper und Genitalherpes, mit denen ich andere ansteckte. Und ich wurde schwanger. Siebenmal habe ich abgetrieben. Die Schuldgefühle plagen mich noch immer."

Lange stand zur Debatte, ob die Sucht nach Sex als Krankheit bezeichnet werden kann. Für Diskussionen und Uneinigkeit unter den Experten sorgten die Fragen: Ab wann ist das Verlangen ungewöhnlich? Ist jemand, der einmal pro Tag Sex will, schon süchtig? Oder muss er es mehrere Male wollen – ganz gleich, wo und mit wem?

Im Jahr 2003 definierte die "Psychatric Association ", die wichtigste Organisation amerikanischer Psychiater, ab wann Sexsucht krankhaft ist: Nämlich sobald jemand unter seinem ausprägenden Trieb leidet und er unkontrollierbar wird. Das Fachwort dafür: Hypersexualität.

Eine Folge von Leas Sucht: Sie verliert ihren Job. Da ist sie gerade 30.

"Ich arbeitete als Rechtsanwaltsgehilfin. Das Büro teilte ich mir mit einer Kollegin, die nur vormittags da war. So war ich oft ungestört und hatte Zeit, mich mit Sex zu beschäftigen. Mindestens dreimal pro Tag sah ich mir Pornos an und befriedigte mich dazu. Das ging gut – bis zu dem Tag, als mein Chef mich erwischte.

Ich fasste meinem Chef zwischen die Beine

Lea

Ich saß gerade vorm PC – und hatte solche Lust, dass ich es tun musste. In dem Moment blendete ich aus, dass es jemand mitbekommen könnte. Als mein Chef hereinkam, griff ich nicht etwa nach meinen Klamotten – sondern fasste ihm völlig distanzlos einfach zwischen die Beine. Er reagierte geschockt.

Ich wusste in diesem Moment gar nicht, was ich tat.

Nach dem Vorfall bekommt Lea, so erzählt sie es, eine fristlose Kündigung.

"Rasch musste ich mir eine Geschichte ausdenken, die ich in meinem Umfeld erzählen konnte. Ich traute mich nicht, offen davon zu erzählen, weil ich mich so schämte.

Ich schlief mit irgendwem, nahm Drogen, gab zu viel Geld aus

Lea

'Mein Anwalt geht in Frührente.' Das war die Version, die ich allen aufgetischt habe. Offiziell war ich allerdings arbeitslos.

Ich fiel in ein tiefes Loch. Ich schlief mit irgendwelchen Menschen, nahm Drogen und gab viel zu viel Geld aus. Ich wusste einfach nicht mehr, wie es weiter gehen sollte."

Diese Zeit nimmt Lea rückwirkend als einen Wendepunkt in ihrem Leben wahr.

"Irgendwann begann ich, im Internet zu recherchieren. Ich suchte viele Seiten und Foren ab, auf der Suche nach der Frage, was mit mir nicht stimmen könnte. 

Irgendwann stieß ich auf das Wort 'Hypersexualität'. Ich fühlte eine große Erleichterung. Oft war ich so wütend auf mich und meinen unkontrollierten Drang. Erstmals davon zu lesen, dass ich krank sein könnte, nahm mir die extremen Schuldgefühle. Und ich fühlte Hoffnung, da in den Artikeln von einer möglichen Heilung die Rede war."

Nachdem Lea begriffen hat, dass sie sexsüchtig ist, vertraut sie sich zum ersten und letzten Mal jemandem an, den sie gut kennt: ihrer besten Freundin.

"Ich zeigte ihr die vielen Artikel, die ich im Internet gefunden hatte. Endlich musste ich mein Leid nicht mehr verstecken. Offen über meine Probleme reden zu können, das war für mich völlig ungewohnt."

Brauche ich eine Selbsthilfegruppe?

Lea

Die beiden setzen sich noch einmal vor die Suchmaschinen, um herauszufinden, wer oder was Lea helfen könnte. Das Ergebnis: vielleicht die "Anonymen Sexaholiker ".

Eine von vielen Selbsthilfegruppen, in der Betroffene über ihre Sexsucht sprechen. Darüber, wie sie dem Sex die Woche über ausgewichen sind, wie oft und in welchem Umfang sie daran denken mussten, wie sich der Verzicht anfühlt und manchmal auch darüber, wie es war, rückfällig zu werden.

"Als ich das Wort 'Selbsthilfegruppe' hörte, war ich zuerst sehr abgeneigt. War ich wirklich so krank, dass ich eine solche Gruppe brauchte? Zögerlich ging ich zum ersten Treffen. Dort merkte ich, dass es auch andere gibt, die unter dieser Störung leiden. Die Gespräche, die Leute, all das half mir sehr."

In der Gruppe lernt Lea auch, sich mit ihren depressiven Phasen auseinanderzusetzen.

"Ich litt schon Jahre vor der Sucht an schlimmen Gemütsschwankungen. Im einen Moment plante ich einen tollen Abend mit den Mädels, Stunden später fand ich mich heulend und grundlos deprimiert auf meiner Couch wieder.

Woher diese Ausbrüche kamen, und sie kommen heute noch, wenn auch seltener, konnte ich nie wirklich herausfinden.

Aber ich versuche, sie in der Selbsthilfegruppe aufzuarbeiten. Mein Betreuer sagt sehr oft, dass meine Sexsucht erst dann überwunden ist, wenn ich meine Depression bekämpfe. Mit mir zufrieden zu sein und mich zu akzeptieren, das ist das Ziel der Therapie."

Und was, wenn sexsüchtige Menschen wieder eine Beziehung eingehen? Darf dann kein Sex stattfinden, damit der Betroffene nicht rückfällig wird? Darf es für den Betroffenen überhaupt keine sexuellen Erfahrungen mehr geben?

Die Ärzte der "Psychatric Association" sind sich einig: Nur ein langer Verzicht, eine mindestens einjährige Zeitspanne ohne jegliche sexuelle Handlungen mit sich oder anderen, kann helfen, die Sucht zu bekämpfen.

Für Lea ist dieser Verzicht auf Sex schwer – fast unmöglich.

"Schon beim ersten Treffen der Gruppe sagte man mir, dass ich ab jetzt abstinent leben müsse. Ich nahm mir das auch vor, hatte anfangs aber Rückfälle im Wochentakt.

Das hat mich abgeschreckt. Ohne Sex zu leben, das erschien mir kaum machbar.

Mittlerweile bin ich eisern. Ich hatte seit 13 Monaten keinen Sex mehr, bin wieder festangestellt in einer Kanzlei und fühle mich besser. Mir helfen die Gespräche in der Gruppe – und Sport. Der lenkt ab, macht müde und schafft Befriedigung. Zwar anders als die, die ich gern hätte. Aber immerhin."

Noch immer fällt es Lea schwer, über ihre Krankheit zu sprechen.

"Ich habe manchmal noch düstere Momente. Dann möchte ich mich meinem Trieb wieder hingeben und alles hinschmeißen. Meinen Job, die Abstinenz, die Kontrolle. Dann muss ich mir immer wieder bewusst machen, wie weit ich schon bin.

Ich denke noch immer viel an Sex. Egal, ob daheim auf dem Sofa oder mit meinen Mädels in einer Bar. Bei Sexthemen gehe ich total auf, aber sobald wir zu anderen Themen übergehen, fällt es mir schwer, mich zu konzentrieren und mitzureden.

Mit meiner besten Freundin kann ich ehrlich reden, das hilft. Was alles andere angeht: Ich sage ihnen nichts. Ich habe einfach noch immer Angst, ausgelacht und nicht ernst genommen zu werden."

Was ist Liebe, was ist Sex? Eine Fotografin versucht, es zu erklären – mit Bildern:

Fotostrecke

So kann Liebe aussehen

Mehr lesen über

Verwandte Artikel

Die Wiedergabe wurde unterbrochen.
Merkliste
Speichern Sie Ihre Lieblingsartikel in der persönlichen Merkliste, um sie später zu lesen und einfach wiederzufinden.
Jetzt anmelden
Sie haben noch kein SPIEGEL-Konto? Jetzt registrieren