Ärztestreiks "Ich bin doch nicht blöd!"
Der Neckar in Tübingen ist im März bitterkalt. Wer jetzt hier baden geht, der muss sehr gesund, belastbar und gut motiviert sein. So wie die rund 40 Assistenz- und Oberärzte der berühmten Tübinger Universitätsklinik. "Wir gehen für Sie baden!", steht auf einem ihrer Transparente. Damit niemand auf die Idee kommt, hier werde wie so oft am romantischen Hölderlin-Turm irgendein akademischer Jux getrieben, tragen alle Schwimmer ihre weißen Kittel.
Transparente und Flugblätter verdeutlichen den Ernst der Lage: Deutschlands Ärzte ziehen in den Streik. Nicht symbolisch wie in den vergangenen Jahren, sondern real: Mit Großdemonstrationen, pfiffigen Unterhaltungseinlagen, Trommeln, Tröten und Trillerpfeifen. So was hat Deutschland noch nicht gesehen. "MediMarkt. Ich bin doch nicht blöd. 1599 Euro Dauertiefpreis", schreibt eine streikende junge Ärztin in Offenbach am Main auf ihr selbstgemaltes Plakat. Die Summe ist ihr Netto-Monatsverdienst. "Unser Lohn ist Hohn" erläutert das Transparent ihres Kollegen die Situa tion. Denn, drittes Argument: "Nur Jesus hat umsonst geheilt."
Doch wozu sieht sich eine Münchner Klinik-Gynäkologin, glaubt man dem Bekenntnis auf der Rückseite ihres Kittels, gezwungen? "Nachts machen wir's umsonst", steht dort. Wie ein Flächenbrand erfasst der Ärztestreik die ganze Republik und alle Ar- ten von Krankenhäusern - die elitären Unikliniken, die abgelegenen Landespsychiatrieanstalten, die kommunalen Häuser. Die Entschlossenheit ist überall gleich, auch der Wille, den Konflikt durchzuhalten und notfalls zu eskalieren.
Der Feind ist eine große Koalition aus den Gesundheitspolitikern der beiden Volksparteien, den Finanzministern und Stadtkämmerern, den Bürokraten in den Krankenkassen und der Gewerkschaft Ver.di. Operationen werden verschoben, ganze Krankenstationen müssen schließen, denn die Ärzte kommen nicht zum Dienst. Mühsam wird ein Notdienst aufrechterhalten. Das geht so, an wechselnden Schauplätzen und mit improvisierten Aktionen, monatelang. Jörg-Dietrich Hoppe, der Präsident der Bundesärztekammer, beschreibt die Motive der Streikenden: "Marathondienste im Krankenhaus, hochqualifizierte Leistungen zu Dumpingpreisen, Verbürokratisierung, Dokumentationswahn, Checklistenmedizin ... Entmündigung der Patient-Arzt-Beziehung". Die Jungärzte auf der Straße sagen es griffiger: "Vom Halbgott in Weiß zum Depp der Nation".
Aus der Sicht der allermeisten Mediziner ist das eine korrekte Diagnose. Was sie am meisten kränkt, ist die seit Jahren betriebene, kontinuierliche Absenkung ihrer Einkommen. Weihnachtsgeld weg, Urlaubsgeld weg, und vor allem: Die Überstunden werden - wenn überhaupt - nur noch zu einem kleinen Teil bezahlt. Das gilt unter Ärzten als besondere Gemeinheit. Denn die Verwaltungsdirektoren der Kliniken, die Tarifpolitiker aller Länder und des Gesundheitsministeriums machen selbst niemals Nachtdienst.
Sie haben keine "Rufbereitschaft" und verstehen unter "Hintergrunddienst" höchstens ein konspiratives Gemauschel bei Wein und Zigarre. Vor allem aber: Noch in den neunziger Jahren wurde der ärztliche Nachtdienst ordentlich bezahlt. Bei vielen Assistenten und Oberärzten verdoppelte er das Gehalt. Dann kamen neue Regelungen aus Brüssel und ein deutsches Arbeitszeitgesetz. Seither sollen Überstunden durch Freizeit ausgeglichen werden. Im Alltag einer Klinik funktioniert das aber nur sehr selten.
Ein Stationsarzt kann nach dem Nachtdienst nicht morgens einfach nach Hause gehen und die Visite dem Verwaltungsdirektor überlassen. Er kann auch nicht am nächsten Tag einfach blaumachen und ausschlafen. Er wird beim Kaiserschnitt gebraucht, beim Herzkatheter, in der Unfallchirurgie - und solche Termine richten sich nach keinem Dienstplan. Dass lange, auch überlange Arbeitszeiten (inklusive Übermüdung) für einen Krankenhausdoktor in seinem ersten Arbeitsjahrzehnt unvermeidlich sind, das weiß jeder Medikus.
Die 80-Stunden-Woche wird als berufstypisch hingenommen, nur soll sie wenigstens gut bezahlt werden. Weil die Rechtslage es zuließ, haben die Krankenhausbetreiber im Rahmen des immerwährenden "Verteilungskampfes" um die Milliarden der Gesundheitsindustrie den Klinikärzten in den vergangenen Jahren jedoch tief in den Beutel gefasst. Das rächt sich jetzt beim Ärztestreik. "Das ist kein Ärztestreik", erläutert der Marburger Bund (MB), "das ist ein Sklavenaufstand."
Zur großen Überraschung der Arbeitgeber radikalisierte sich dieser bisher so friedliche standespolitische Debattierclub innerhalb weniger Monate zu einer rabiaten Gewerkschaft, einer mit viel Sponti-Elan. Die Mitgliederzahl des MB verdoppelte sich, von 55.000 auf 110.000 Mitglieder. Die Gewerkschaft Ver.di, die bisher eher nebenbei auch für abhängige Ärzte die Tarife ausgehandelt hat, muss sich vom MB-Chef, dem Hamburger Röntgen-Oberarzt Frank Ulrich Montgomery, nachsagen lassen, sie sei in Wahrheit eine "arztfreie Zone". Das kann man so sehen, denn höchstens 1000 Mediziner (von insgesamt 136.000 Krankenhausärzten) sind bei Ver.di Mitglied. Außerdem - und viel schlimmer - sei aber, was Ver.di als unterschriftsreifen Tarifvertrag im Namen der Ärzte nach acht Wochen ausgehandelt habe, ein "mafiöses Komplott". Im Ergebnis gebe es für Ärzte nicht mehr, sondern noch mal weniger Geld.
Montgomery, den die Basis danach liebevoll "Monti" nennt, legt gleich noch nach: "Wenn Ver.di für uns Ärzte einen Tarifabschluss erledigt, dann ist das so, als wenn die Gewerkschaft der Kulissenschieber die Honorare für die Schauspieler aushandelt." Das trifft die Stimmung der Streikenden, die eine Mischung aus Frust und Ressentiments ist. Schließlich glauben die Ärzte immer noch, was der griechische Ärztevater Hippokrates (460 bis 377 v. Chr.) gelehrt hat: "Die ärztliche Kunst ist von allen Künsten die hervorragendste." Mehrheitlich teilt auch das Volk diese Ansicht.
Nur die zahlreichen Konkurrenten, die ebenfalls von den 234 Milliarden Euro leben, die der medizinisch-industrielle Komplex 2004 in Deutschland verbraucht, diese "Neider" und Kulissenschieber setzen nach ärztlicher Wahrnehmung den Stand der approbierten Weißkittel herab. Tatsächlich geht es mit den angestellten Krankenhausärzten in Deutschland seit Jahren bergab. Sie werden deutlich schlechter bezahlt als griechische oder spanische Kollegen, von den Englän- dern ganz zu schweigen, die verdienen das Doppelte, die Amerikaner das Fünffache.
Mittlerweile gibt es mehr als 80 Berufe, die sich auch vom Kranken nähren, darunter diverse Schrift- und Computerkenner (zum Beispiel "Master of Public Health"), Vorbeuger (etwa "Prävento- logen"), Psycho-Helfer (beispielsweise fortgebildete Grundschulpädagogen, die als "Jugendpsychotherapeut" im Branchentelefonbuch unter der Rubrik "Ärzte" stehen - nunmehr gutverdienende Freiberufler). Solche narzisstischen Kränkungen des Standes paaren sich mit dem Widerwillen gegen die "Bürokraten".
Ihre einflussreichsten Exponenten sitzen in den Chefetagen der Krankenkassen und verteilen die (meist zwangsweise) eingezogenen Beiträge der Versicherten. "Früher", so erläutert ein Oberarzt in München, "nannten die sich Sozialfachangestellte, waren Inspektor und kürzten sich ,Sofa' ab". Zu Recht, wie die Ärzte fanden. Heute wird der Rollgriff der Sofas in die Sozialkassen "immer ausverschämter. Die Chefs zahlen sich 100.000- Euro-Gehälter und dazu sogar in Minus-Jahren 50.000 Euro "Bonus". Mühelos gelingt es Hartmut Möllring, dem Vorsitzenden der Tarifgemeinschaft deutscher Länder und CDU-Finanzminister in Niedersachsen, mithin Konterpart der Ärzte, schon bei den ersten Verhandlungen im März das "Äskulap-Proletariat" (Selbstdiagnose) gegen sich aufzubringen.
Acht Tage nach Streikbeginn spottet der "Jurist mit dem Sofa-Gesicht" (ein Tübinger Chirurg), der "Marburger Bund hat ja keine Streikkasse". Auch in diversen Fernsehnachrichten bläst Möllring die Backen auf und kommt den unzufriedenen Ärzten sehr von oben herab. Das heizt die Stimmung ordentlich an. Der Marburger Bund hat keine Mühe mit seiner internen Argumentation: Wir müssen allen diesen Kerlen endlich mal zeigen, wer im Gesundheitswesen der Koch ist und wer der Kellner.
Möllring und seine Große Koalition staunen nicht schlecht, als die Ärzte (ganz ohne Streikkasse) die Streiks ausweiten - und das noch dazu in einer falschen Schlachtordnung: Sie nehmen sich nicht die Bürokraten als Geisel, indem sie deren Papierflut bestreiken, auch nicht die Pharmaindustrie, die an den Sozialkas-sen viel besser verdient als die Ärzte. Die Ärzte bestreiken ihre Patienten. Das könnte auch schiefgehen. Möllring & Company rechnen fest damit. Doch die Meinungsumfragen zeigen, dass jeweils drei Viertel der Befragten stabil für die Weißkittel optieren. Die Ärzte hätten Recht mit ihrem monatelangen Streik.
Das unverändert glänzende Sozialprestige der Mediziner - sie üben nach mehrheitlicher Überzeugung den angesehensten Beruf aus - und der sehnlichste Wunsch der meisten Menschen, Gesundheit, korrespondieren auf tragfähige Weise. Möllring verliert und wird ganz klein, Monti gewinnt haushoch. Die neuen Tarifabschlüsse steigern die Einkommen der Krankenhausärzte offiziell um rund 15 Prozent, in Wahrheit um weit mehr: Denn nun muss auch wieder der Nachtdienst bezahlt werden, die Rufbereitschaft, die Hintergrunddienste. Alle anderen Probleme des deutschen Gesundheitswesens bleiben ungelöst. MB-Streikchef Montgomery glaubt wohl auch nicht daran, dass die potentiellen Gegner einer solchen Schlacht überhaupt satisfaktionsfähig sind. Er nennt die Deutsche Krankenhausgesellschaft einen "professionellen Jammerhaufen ohne Zukunft und ohne Vision".
Immerhin: Fürs Erste hat der "Jammerhaufen" im heißen Jahr 2006 gelernt, wer im Krankenhaus Koch und wer Kellner ist.