
Stress pur: 24 Stunden im Krankenhaus
24 Stunden im Krankenhaus Stress pur bis morgens um sieben
In dünnen Rinnsalen läuft das Blut langsam an den Fingern der weißen Plastikhandschuhe herunter. Mit einem Sauger in der Hand steht Assistenzärztin Sophie Neumayer (Name geändert) am Operationstisch. Das Ende des Saugers steckt im Oberschenkel einer 71-jährigen Frau. Schmatzend und schlürfend läuft rote und gelbe Flüssigkeit in einen durchsichtigen Plastiksack. Im Oberschenkel der Frau hat es stark geblutet. Der Oberarzt vermutete eine Komplikation an einem Bypass, der Blut um eine verstopfte Ader herumleiten soll.
Durch den fensterlosen Operationssaal des Berliner Krankenhauses Charité surrt es wie aus Kühlschränken. Ein regelmäßiges Piepsen zeigt an, dass das Herz der narkotisierten Frau gleichmäßig schlägt. Blaue Tücher decken ihren Körper ab, nur der aufgeschnittene Oberschenkel ist ausgespart. Mit dem linken Zeigefinger zerreibt Neumayer ein Blutklümpchen auf dem Tuch. Längst hat der Oberarzt den OP verlassen, die Blutung ist gestoppt, nur die Wunde muss noch zugenäht werden.
Es ist kurz nach Mitternacht. Sophie Neumayer, 27, hat seit über 17 Stunden die Klinik nicht verlassen. Um 7 Uhr morgens hat sie angefangen, bis 7 Uhr muss sie bleiben. 24-Stunden-Schicht. Von Morgengrauen zu Morgengrauen, von Blutabnahme zu Blutabnahme.
Irgendwo klingelt ein Handy. "Meins", sagt Neumayer gedämpft durch den hellblauen Mundschutz. Weil momentan alles an ihr steril ist, darf sie nichts außer dem Operationsbesteck anfassen und auch von niemandem angefasst werden. Eine OP-Schwester hält ihr das Telefon ans Ohr. In der Rettungsstelle wartet eine Frau mit starken Bauchschmerzen. Sie hat Schnecken gegessen und sich vielleicht daran vergiftet. "Ich bin sofort da."
36 Stunden wach? Auch kein Problem
Gemeinsam mit einer Fachärztin ist die Assistenzärztin in dieser Nacht für fast hundert Patienten auf sechs Stationen zuständig. Dazu die Rettungsstelle, in die Notfallpatienten von außerhalb kommen, und der OP. "36 Stunden kann ich inzwischen ohne Probleme am Stück wach bleiben. Nur bei 48 Stunden wird es schwierig."
Seit gut einem halben Jahr arbeitet Neumayer am Virchow-Klinikum der Charité im Berliner Stadtteil Wedding. Urlaub hatte sie seitdem noch keinen. In manchen Monaten arbeitet die jüngste Ärztin der chirurgischen Abteilung jeden Tag, auch am Wochenende. Fünfeinhalb Ausbildungsjahre liegen noch vor ihr, bis sie sich Fachärztin für Chirurgie nennen darf. "Natürlich heißt das, dass ich im Moment viele Nachtdienste schieben muss, aber das ist nicht schlimm."

Carpe Noctem: Freunde der Nacht
In anderen Krankenhäusern kommen die Nachtschichtler erst mittags. Aber Neumayer stören die 24-Stunden-Schichten nicht. "Wenn man erst mittags kommt, hat man schon alles verpasst, was morgens besprochen wurde - da komme ich doch lieber gleich schon morgens."
Auch das Geld ist ein Argument. In Monaten mit vielen Extraschichten kommt Neumayer auf rund 3000 Euro. "Aber weil ich dann auch fast immer arbeite, habe ich gar keine Zeit, das Geld auszugeben." Monate hat es gedauert, bis sie sich endlich ein Bett für ihre neu gemietete Berliner Altbau-Wohnung gekauft hat - "ich bin doch nie zu Hause zu deren Lieferzeiten".
Sieben Jahre lang hat Neumayer in München Medizin studiert, parallel zur Ausbildung schreibt sie ihre Doktorarbeit. Für den Job ist sie nach Berlin gezogen, hat viele Freunde und ihre Fußballmannschaft in Bayern zurückgelassen.
"Hier ist Wedding, Schlägereien gibt es jede Nacht"
Chirurgie gilt als eine der Königsdisziplinen der Medizin. Viele der rund 8000 jungen Menschen, die jedes Jahr ein Medizinstudium in Deutschland aufnehmen, wollen einen Job wie Neumayer. Und das, obwohl der Job gerade für junge Frauen schwierige Perspektiven bietet: Deutsche Ärztinnen sind im EU-Vergleich schlechter bezahlt und nehmen deutlich seltener Führungspositionen ein als Männer. Frauen besetzen laut Bundesärztekammer nur etwa jeden zehnten Spitzenjob in der deutschen Medizin - sie stellen aber 40 Prozent des Personals.
Im weißen Kittel läuft Neumayer Richtung Rettungsstelle. Die langen, neonhellen Gänge der Klinik sind um diese Zeit leer und still. Bei jedem Schritt quietschen ihre schwarzen Plastikschuhe auf dem blauen Laminat. "Manchmal bekomme ich hier fast schon Angst nachts." Mit dem Aufzug fährt sie ins Untergeschoss, zur Rettungsstelle, dem Tor zur Außenwelt.
Sanitäter fahren einen Mann im Rollstuhl herein. Er hält sich eine weiße Kompresse vor die linke Gesichtshälfte, Blut tropft auf sein weißes Hemd. "Hier ist Wedding", sagt Neumayer, "Schlägereien gibt es jede Nacht." Manche Patienten torkeln vom nicht weit entfernten Leopoldplatz, einem sozialen Brennpunkt, in die Rettungsstelle hinein. Zu Neumayer kommen nur die, die im Bauch operiert werden müssen, und das möglichst bald.
In der "Eins", einem kleinen Behandlungszimmer, sitzt ein älteres Ehepaar. Sie habe drückende Schmerzen im Oberbauch, klagt die Frau. Vielleicht von den Schnecken, die sie gegessen habe. Neumayer tastet den Bauch ab, klopft in die Seiten, horcht mit dem Stethoskop. "Da ist viel Luft in Ihrem Bauch, das bereitet Ihnen wahrscheinlich die Schmerzen. Aber ich denke nicht, dass es etwas zum Operieren ist. Am besten, ich gebe Ihnen erst mal was zum Abführen, und wir warten die Blutwerte ab." Mit wenigen Klicks auf ihrem iPhone findet Neumayer dank einer speziellen wissenschaftlichen App das passende Medikament.
Erst um 7 Uhr naht die Ablösung
Um 2.30 Uhr surft im Aufenthaltszimmer eine Schwester im Internet, ein Arzt betrachtet ein Röntgenbild. Es riecht nach Kaffee. Auf dem Tisch stehen Thermoskannen, eine halbe Aprikosen-Sahne-Torte, eine Schale mit Plätzchen. Neumayer setzt sich an den Tisch und nimmt einen Butterkeks. Kaffee trinkt sie nie.

Nachtschicht: Mit dem Pizza-Express durch Dunkelberlin
Gefrühstückt hat sie um 11 Uhr morgens und abends beim Pizzadienst einen Salat bestellt. Sechs Operationen hat sie hinter sich, hat gemeinsam mit ihren Kollegen den Rest eines Tumors an der Bauchspeicheldrüse entfernt, eine Gallenblase und eine Schwellung in einem Darm herausgeschnitten. Dazwischen Visite, Frühbesprechung, Blutabnahmen, Arztbriefe und sechs Patienten auf der Rettungsstelle. Einer fragte sie am Vormittag, wie lange er noch leben wird - Krebs im Endstadium. "Natürlich nimmt mich so etwas mit. Aber da muss ich durch."
Die Blutergebnisse der Patientin mit den Bauchschmerzen lassen auf sich warten. "Ich könnte jetzt in das Bereitschaftszimmer gehen, wo ein Bett steht. Aber das ist zu weit weg." Sie verschränkt die Arme auf dem Tisch, legt den Kopf seitlich darauf und schließt die Augen.
Vier Stunden später. Guten Morgen Berlin, langsam wird Schwarz zu Blau. Neumayer nimmt den Patienten auf ihrer Station Blut ab. Ihr Nickerchen auf der Rettungsstelle währte nur eine Viertelstunde, dann waren die Blutwerte da: alles gut. Die Patientin mit der vermeintlichen Schneckenvergiftung konnte mit einem Schmerzmittel nach Hause gehen. Und Neumayer danach noch eine halbe Stunde im Bereitschaftszimmer schlummern.
Gleich wird es sieben, dann kommt ihre Ablösung. Trotzdem wird sie noch drei Stunden lang Patienten-Visite machen und Arztbriefe schreiben. "Ich könnte hier nie weggehen, bevor ich nicht alles fertiggemacht habe." In ihren Augen glänzt es rötlich. Im Aufenthaltsraum der Intensivstation trifft sie sich mit Kollegen zur Übergabe. Besprochen wird, wer alles operiert wurde und wer wieder nicht drangekommen ist. "Ach, da steht ja noch meine Cola-Flasche von gestern Abend", sagt Neumayer. Sie ist voll.
Von Christina Horsten, dpa/jol