Bedröhnt im Job Sie machen blau

Wenn Sie das sehen, bitte Hilfe holen - beim betrieblichen Suchtkrankenhelfer etwa
Foto: CorbisDa sind ein paar Typen, die sich zu jeder Tageszeit einen Drink gönnen, manchmal auch drei oder vier, die Zigarette immer in der Hand. Alle in dieser Firma machen das, seit Jahren schon.
Was für die Werber aus der erfolgreichen TV-Serie "Mad Men" in den sechziger Jahren normal ist, wird Peter Raiser in seinem Job nie erleben - da gibt es nicht einmal Alkohol, wenn ein Kollege Geburtstag hat. Denn Raiser arbeitet bei der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen . "Das größte Problem ist, dass die Risiken unterschätzt werden, die von Alkohol am Arbeitsplatz ausgehen", sagt er - von den Produktivitätsverlusten ganz zu schweigen.
Man spricht von fünf Prozent Abhängigen und zehn Prozent Suchtgefährdeten in der arbeitenden Bevölkerung. Allein wegen Alkohols am Arbeitsplatz entstanden einer Studie der Uni Hamburg zufolge 2007 fast 30 Milliarden Euro Verlust für die Volkswirtschaft, alkoholbedingte Arbeitsunfälle verursachten Kosten von einer Milliarde Euro. Wie stark Medikamentenabhängigkeit zugenommen hat, weiß keiner - sie wird nicht umsonst die "stille Sucht" genannt. Eine Schnapsfahne kann man immerhin riechen.
Mittags Bier, dann an die Maschine
Genau da fängt das Problem meist schon an: Ist Kollegin Müller alkoholkrank - oder hat sie nur wieder zu viel gefeiert? Putscht sich der Buchhalter mit Amphetaminen - oder sind's nur Vitamintabletten? Keiner traut sich, etwas zu sagen: weil man niemanden beim Chef anschwärzen will. Oder weil der Kollege ein nützlicher Watschenmann ist: Eine Abgabefrist nicht eingehalten? - Er war's.
Viele deutsche Firmen kümmern sich inzwischen um ihre suchtkranken Arbeitnehmer. Erst seit Mitte der Siebziger gibt es etwa spezielle Betriebsvereinbarungen, sagt Elisabeth Wienemann, Soziologin und Arbeitswissenschaftlerin an der Uni Hannover. "Bis in die Neunziger ging es jedoch nur um Suchtkrankenhilfe, heute überwiegen in den Firmen die Suchtpräventionsprogramme." In Belgien sind sie sogar gesetzlich vorgeschrieben.

Gehirndoping: Voll konzentriert, hellwach, superschnell?
In der Regel geht es Betrieben um beides: Vorbeugung vor Sucht und Hilfe für jene, die abhängig sind - egal ob von Alkohol, Pillen, Heroin oder Marihuana. Dass Prävention Pflicht ist, steht schon im Arbeitsschutzgesetz : Der Arbeitgeber sei verpflichtet, "die Sicherheit und Gesundheit der Beschäftigten bei der Arbeit" zu gewährleisten.
Betriebsvereinbarungen sieht Peter Raiser als ersten Schritt und rät zu Selbstverpflichtungen: "kein Alkohol am Arbeitsplatz oder in der Kantine". So strikt wie bei der DHS, wo selbst kleine Bürofeiern promillefrei bleiben, müsse es nicht sein. Aber: "Es sollte keiner mittags ein Bier trinken und sich danach wieder an die Maschine stellen." Oder operieren, einen Zug, ein Flugzeug, einen Lkw steuern.
Chef, bitte aufpassen!
Anke Schmidt von der Berliner Fachstelle für Suchtprävention empfiehlt, erst einmal genau hinzuschauen und Symptome einer möglichen Sucht von Mitarbeitern zu sammeln: Fehlzeiten, verbummelte Termine, vor allem konkrete Fehler in der täglichen Arbeit. Man müsse dem Mitarbeiter klarmachen, dass sein Verhalten Probleme verursacht. Schmidts Modellprojekt mit dem sperrigen Namen Prev@Work setzt schon bei Berufsanfängern an und läuft bundesweit, vor allem für Azubis in Bundesbehörden. Überhaupt rät sie, nicht nur Abhängige im Blick zu haben: "Ein großer Teil der Produktivitätsverluste entsteht weniger wegen Absentismus, nämlich durch Fehlzeiten, sondern weil die Leute am Tag vorher trinken waren und verkatert zur Arbeit kommen", also wegen "Präsentismus ".
Genau hinschauen sei vor allem Aufgabe von Vorgesetzten, sagt Ludwig Rainer. Der Psychologe vom Institut für betriebliche Suchtprävention schult Führungskräfte und bildet Arbeitnehmer als betriebliche Suchtkrankenhelfer aus - oder als "kollegiale Berater". Das sind extra für diese Aufgabe freigestellte Mitarbeiter als Ansprechpersonen. Ob in der freien Wirtschaft oder im Öffentlichen Dienst, es gibt festgelegte Leitfäden , Standard sind mehrstufige Interventionsgespräche. Ziel: dem Mitarbeiter helfen, damit er wieder gesund wird und normal arbeiten kann - eben ein "Kündigungsverhinderungsprogramm", wie Rainer es nennt.
Keine Angst vor Drogentests
Auch der Arbeitsrechtler Benjamin Biere von der Frankfurter Kanzlei Hensche Rechtsanwälte sagt: "Kündigung ist nur die Ultima Ratio." Sucht sei eben eine Krankheit - und krankheitsbedingte Kündigungen seien oft problematisch. Auch wenn es sich um illegale Drogen handelt, sollte man den Kollegen besser zu einer Therapie überreden statt zur außerordentlichen Kündigung zu greifen. Nur wer eine Entziehungskur verweigert und "seine Leistungsfähigkeit nicht wiederherstellen möchte", so Biere, dem könnte eine verhaltensbedingte Kündigung drohen.
Auch ohne Kündigung gibt's offene Fragen , etwa wenn Betriebe suchtkranken Mitarbeitern individuelle Klauseln in ihre Arbeitsverträge schreiben. Dürfen die das? "Aus führungsstrategischer Sicht mag das sinnvoll sein", sagt Anwalt Biere, "aber eigentlich ist das überflüssig: Mit der Unterschrift unter den Arbeitsvertrag stimmt man auch der geltenden Betriebsordnung zu - und die gibt in der Regel vor, dass Alkohol am Arbeitsplatz unerwünscht ist." Angst vor Drogentests müssen Mitarbeiter im Prinzip nicht haben, denn "verdachtsunabhängige Drogentests" seien unzulässig, "auch etwa bei Bewerbern". Die Ausnahme: sicherheitsgefährdete Branchen wie etwa Gesundheitswesen oder Öffentlicher Nahverkehr.
Mit der Industrialisierung kam die Sucht
Alles schön und gut, aber eigentlich müsste man bei der Arbeitskultur anfangen: zu viel Stress, zu wenig Anerkennung, zu wenig Freiheit - alles Suchtfaktoren. "Immer mehr Menschen trinken Alkohol, um Stress zu bewältigen", sagt Soziologin Wienemann. Bei Überlastung kommen meist auch Pillen ins Spiel, sich für bessere Leistung mit Medikamenten zu dopen, ist schließlich gesellschaftlich akzeptiert. "Statt Amphetamine einzunehmen, um wach zu sein, könnte man einfach mehr schlafen", schlägt die Berliner Fachfrau Anke Schmidt vor. Aus Sicht von Suchtexperten ist Prävention allemal wirtschaftlich sinnvoll, jeder dafür investierte Euro könne sich mehrfach auszahlen.
Zum ersten Mal zu einem Problem wurde Alkohol am Arbeitsplatz übrigens mit der Industrialisierung, sagt Soziologin Wienemann: "Auf einmal hatten die Arbeiter erstmals selbst Geld in der Hand, um Alkohol zu kaufen - vorher, als sie noch Landarbeiter waren, wurde ihnen der Alkohol zugeteilt." Der amerikanische Management-Vordenker Frederick Taylor erkannte schon Anfang des 19. Jahrhunderts, dass Industriejobs eine andere Art von Disziplin erfordern und mit Alkohol nicht zu bewältigen sind: "Ein Gewohnheitstrinker hätte nicht Schritt halten können", schrieb er.
Davon war 1960 nicht mehr viel übrig - wer sehen will, zu was ein hoher Promillepegel im Büro führt, muss nur mal in eine x-beliebige "Mad Men" -Folge reinschalten. Läuft zur Zeit auf ZDFneo.