
Leben mit der Pleite: Die Leere nach dem Sturm
Anonyme Insolvenzler "Hallo, mein Name ist Simon, und ich bin pleite"
Allmählich füllt sich der Raum Bambus im Veranstaltungszentrum Tor 28, nahe dem Kölner Hauptbahnhof. Volker* ist zum ersten Mal da, Renate* und Frederick* kennen sich, plaudern eine Weile. Zwei Dutzend Polsterstühle stehen im Kreis. Die Anonymen Insolvenzler laden zum Gespräch ein.
Moderator Attila von Unruh, 52, schaut auf die Uhr, es ist kurz nach acht. Die Anonymen Insolvenzler legen Wert auf Pünktlichkeit. Auf einem Flipchart stehen die Regeln: Anonymität, Vertraulichkeit, eigenes Erleben, keine Bewertung, keine Teilnahmegebühr. Jeder stellt sich nur mit Vornamen vor, es bleibt im Raum, was hier geredet wird. Gaffer sind unerwünscht, wer nicht persönlich betroffen ist - sei es durch die eigene Insolvenz oder die des Lebenspartners - möge jetzt bitte gehen.
Die Routiniers erzählen, wie sich ihr Insolvenzverfahren seit dem letzten Treffen entwickelt hat, ob sie sich mit Gläubigern einigen konnten, wo weitere finanzielle Löcher aufgerissen sind. Den Neulingen fällt das Reden schwer, einige sagen außer bei der Vorstellung kein Wort. Aber das macht nichts, niemand wird gezwungen. Zuhören reicht fürs Erste.
Terrasse leer, Kasse leer, Verbraucherinsolvenz
Elvira* hatte ein Szenelokal geführt, ihre Terrasse war im Sommer rappelvoll. Als die Straße davor aufgerissen wurde, zogen sich die Bauarbeiten statt drei Wochen ein halbes Jahr hin, weil die Baufirma pleiteging. Terrasse leer, Kasse leer, Elvira musste schließen, Verbraucherinsolvenz.
Einzelhandelskaufmann Simon* hat nacheinander Job, Haus und Frau verloren, trotzdem gehe es ihm gut jetzt, sagt er. Die sechs Jahre bis zur Restschuldbefreiung, mit der das Insolvenzverfahren abschließt, sind bald vorüber. "Dann bin ich 55 und schuldenfrei, aber meine Altersversorgung ist weg, und ich weiß nicht, wie ich mir eine neue aufbauen soll. Hat jemand einen Tipp?", fragt er.
28.297 Unternehmensinsolvenzen hat das Statistische Bundesamt im Jahr 2012 gezählt. Hinzu kamen fast 100.000 Verbraucherinsolvenzen. Die Forderungen der Gläubiger aus beiden Verfahrensarten betrugen 51,7 Milliarden Euro. Insgesamt befinden sich derzeit mehr als 900.000 Menschen in einem Insolvenzverfahren. 6,6 Millionen Menschen gelten als überschuldet und stehen mit durchschnittlich rund 34.000 Euro in der Kreide.

Stilvoll straucheln: Und immer wieder aufstehen
Jobverlust ist mit 26 Prozent der Hauptauslöser von Überschuldung, 14 Prozent der Fälle lassen sich auf Trennung, Scheidung oder den Tod des Partners zurückführen. Auch Krankheit, Sucht oder Unfall sind ein großes Risiko, zusammen 13 Prozent. Dass die meisten Menschen sich durch Handy-Exzesse oder Kauforgien bei Amazon in die Überschuldung reiten, ist ein Vorurteil.
"Bei einer Insolvenz geht es für Betroffene nicht nur um Zahlen und Kontostände, sondern vor allem um Ängste: vor dem Verlust der Wohnung oder der Altersversorgung, Angst davor, dass das bisherige Lebenskonzept zerbricht", sagt Unruh, der 2007 den ersten Gesprächskreis der Anonymen Insolvenzler ins Leben rief. Heute gibt es das kostenlose Angebot in zwölf deutschen Städten, außerdem in Wien.
2009 gründete Unruh den BV INSO (Bundesverband Menschen in Insolvenz und neue Chancen). Schätzungsweise 8000 Betroffene haben bislang Rat gesucht. Je früher sich jemand dem Problem stelle, desto besser, sagt Unruh. Unternehmer verspielten oft viel Zeit, indem sie gutes Geld schlechtem hinterherwürfen.
Grundprinzip ist, dass Wortbeiträge nicht bewertet werden. "Wir schlagen nicht die Hände über dem Kopf zusammen und sagen: 'Wie konntest du nur?' Allerdings geht es in den Gesprächskreisen auch nicht darum, dass sich die Leute auskotzen und selbst bemitleiden. Die Teilnehmer sollen ihren Anteil an der Situation ehrlich einschätzen und dann überlegen, was sie ändern können."
Der Mann geht jeden Morgen in die Firma - die es nicht mehr gibt
Unruh selbst war insolvent. Er hatte eine Eventagentur - bis ein wichtiger Kunde zahlungsunfähig wurde. Wie ein Dominostein kippte seine Firma, die Insolvenz erlebte er als "traumatisch und lebensbedrohend".
Sein Engagement für die Insolvenzler, für das er mehrfach ausgezeichnet wurde, half ihm auf die Füße. Nicht jedem gelingt das. "Mancher verdrängt die Insolvenz oder isoliert sich, flüchtet in Alkohol oder wird depressiv", sagt Unruh.
Andere entwickelten eine unglaubliche Kreativität darin, den Schein zu wahren: "Es gibt die Fälle tatsächlich, in denen die Ehefrau nichts von der Situation weiß, weil ihr Mann morgens im Anzug das Haus verlässt, um in die Firma zu fahren - bloß: Die Firma existiert nicht mehr. Berufliches Scheitern ist in unserer Gesellschaft stigmatisiert. Dabei kann Insolvenz jeden treffen."
Im Raum Bambus geht es weiter: Bea*, die mal eine Apotheke besaß, fühlt sich von ihrem Treuhänder gegängelt. Ihr ist klar, dass sie ihm in der Wohlverhaltensphase das pfändbare Arbeitseinkommen abtreten und jeden Jobwechsel mitteilen muss. Im Augenblick hat sie aber keinen Job, und da kann es doch nicht sein, dass der Treuhänder ständig nach dem Stand der Bewerbungen fragt?
"Schuldner fühlen sich oft wertlos"
Insolvenzler sind gezwungen, ihr Leben umzukrempeln. "Sie werden in eine Situation hineinkatapultiert, in der die Regeln des vorherigen Lebens nicht mehr gelten, keine EC-Karte, kein Wechsel von Verträgen, keine Reserven", erläutert Anne Koark, Managementberaterin, Autorin und Insolvenzexpertin in München. "Insolvenzschuldner fühlen sich oft wertlos, da sie im eigenen Verfahren nicht immer ausreichend mit Informationen versorgt werden."
Nicht selten löst die Insolvenz weitere Krisen aus, etwa in der Partnerschaft. Oft erhielten Betroffene aber unerwartet Hilfe: "Man muss dann lernen, dass es einen nicht klein macht, wenn man sich helfen lässt", sagt Koark.
Kleine Schritte führten aus dem Schlamassel, betont Renate im Raum Bambus. Als ihr das Gericht die Restschuldbefreiung versagte, weil sie in der Insolvenz mit falschen Angaben einen Kredit für einen Wohnzimmerschrank erschwindelt hatte, dachte sie: "Aus, vorbei, ich mach fertig." Eine Anfrage aus ihrem Bekanntenkreis bewahrte die Altenpflegerin vor einer Kurzschlusshandlung: Ob sie nicht Lust und Zeit hätte, im Nachbarschaftszentrum für zwei bis drei Stunden die Woche Senioren beim Einkauf zu begleiten? Renate hatte Lust und Zeit, heute gehört sie zum festen Stamm der Ehrenamtlichen.
Attila von Unruh läutet die Schlussrunde ein. Volker* ist voll des Lobes: Er fand es toll, endlich frei über ihre Situation reden zu können. Die Gruppe zerstreut sich, einige wollen den Abend bei einem Kölsch um die Ecke beschließen. "Die Teilnehmer kommen beladen in die Gruppen, und nach zwei Stunden lese ich in ihren Gesichtern, wie sie sich entspannen", sagt Unruh. "Das eigene Problem relativiert sich, wenn man mit anderen darüber spricht. Reden hilft."
*Name geändert.

KarriereSPIEGEL-Autor Christoph Stehr ist freier Journalist in Hilden.