Arbeiten ohne Chef "Wir haben jeden zur Führungskraft gemacht"

In hierarchielosen Firmen entscheiden alle Mitarbeitenden gemeinsam
Foto: Cecilie Arcurs/ E+/ Getty ImagesEin C kann viele Türen öffnen. Ob Chief Commercial Officer, Chief Operating Officer oder Chief Executive Officer - wer ein C für Chef im Jobtitel trägt, wird häufiger eingeladen und schneller zurückgerufen, das hat Björn Waide bei sich und seinen 30 Mitarbeitenden selbst erlebt. Und deshalb dürfen sich nun alle Chef nennen.
"Jeder soll sich den Titel geben, der ihm oder ihr am besten bei der Arbeit hilft", sagt Waide. Als Konkurrenz für seinen eigenen Posten empfindet der Geschäftsführer von Smartsteuer, einem Anbieter von Online-Steuererklärungen, das nicht, denn: Hierarchien gibt es in seiner Firma nicht mehr. "Wir haben jeden zur Führungskraft gemacht", sagt er.
Das Paradoxe ist: Den Chef abzuschaffen ist eine Chef-Entscheidung. Und sie bedeutet nicht, dass es keine Führungskräfte mehr gibt. Waide stellt sich noch immer als Geschäftsführer vor, wird zu Konferenzen eingeladen, ist der Kopf der Firma. Aber: Statt alle Führungsaufgaben in einer Person zu bündeln, setzt er auf die Mithilfe seiner Mitarbeiter. Jeder übernimmt Verantwortung für ein Thema - und hat für dieses dann auch den Hut auf.
Seit sieben Jahren arbeitet Waide für Smartsteuer, ein Unternehmen der Haufe Group. Er habe damals agiles Arbeiten eingeführt, sagt er, und zusammen mit seinem Team viele Projektmanagement-Methoden getestet. "Wir haben unser Tagesgeschäft super optimiert und sind über die Jahre sehr effizient geworden, aber wir mussten irgendwann auch feststellen: Wir waren nicht innovativ genug", sagt Waide.
Im Grunde habe seine Firma genau das angeboten, was vor Jahrzehnten schon auf CDs erhältlich war: eine Software, um eine Steuererklärung am PC auszufüllen. "Im alten, hierarchischen System hatten wir keine Möglichkeit, uns weiterzuentwickeln", sagt Waide.
"Die Bedenkenträger werden immer in der Mehrzahl sein"
Innovative Ideen habe es schon gegeben, aber an der Umsetzung hakte es. Denn da waren immer diese Fragen: Wer soll sich darum kümmern? Wann? Und: Lohnt sich das denn überhaupt?
"Eine Überlegung war, demokratisch abzustimmen", sagt Waide. "Aber das haben wir schnell verworfen, denn radikale Ideen setzen sich nicht durch. Die Bedenkenträger werden immer in der Mehrzahl sein."
Und so kamen Waide und seine Mitstreiter auf ein Konzept, das im größeren Rahmen auch im Mutterkonzern, der Haufe Group, praktiziert wird: Wer eine vermeintlich gute Idee hat, muss sich Mitstreiter aus verschiedenen Abteilungen suchen, also zum Beispiel Kollegen aus der IT oder dem Marketing. Sobald sich ein Team gefunden hat, wird die Idee im größeren Rahmen vorgestellt. Finden alle den Ansatz spannend, macht sich das Team autonom an die Umsetzung. Und nach wenigen Monaten kommt die erste Zwischenbilanz: Wie vielversprechend ist das Projekt?
Vom Floß zum Ruderboot zum Kreuzfahrtschiff
Thorsten Schaar erklärt das Konzept, um dessen Umsetzung er sich hauptberuflich bei der Haufe Group kümmert, mit Bildern: Zunächst sitze das Team auf einem Floß und versuche, einen ersten Prototyp zu schaffen. "Für ein Floß sammelt man schwimmfähiges Material, bindet es notdürftig zusammen und stürzt sich wagemutig einen Wildbach hinab", sagt Schaar.
In dieser Phase müssen die einzelnen Teammitglieder noch rund 50 Prozent ihrer Arbeitszeit in ihren "alten" Job stecken. Nach der Zwischenbilanz gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder geht das Floß unter - oder das Team steigt Vollzeit um in ein Ruderboot und versucht, seine Idee zur Marktreife weiterzuentwickeln und erste Kunden zu gewinnen. Aus dem Ruderboot kann dann sogar ein Kreuzfahrtschiff werden, was bedeuten würde: ein komplett neues Geschäftsfeld.
Bei Smartsteuer schaffte es so eine Idee zur Umsetzung, die schon lange in der Schublade gelegen hatte, wie Waide sagt: die Soforterstattung der Steuer. Ein Algorithmus berechnet, wie hoch die Wahrscheinlichkeit ist, dass eine errechnete Steuererstattung auch tatsächlich vom Finanzamt bestätigt wird und gibt dem Nutzer die Möglichkeit, sich das Geld vorab von Smartsteuer auszahlen zu lassen. Das finanzielle Risiko trägt der Anbieter der Steuersoftware.
"Seit wir keine Hierarchien mehr haben, ist das ganze Team viel experimentierfreudiger", sagt Waide. "Für jedes Thema findet sich jemand, der Lust hat, sich darauf zu spezialisieren, zum Beispiel auf Konfliktmanagement."
In der Haufe Group haben Thorsten Schaar und Uwe Habicher ähnliche Erfahrungen gemacht. "Viele Unternehmen kennen die Skills ihrer Mitarbeiter gar nicht", sagt Schaar. "Wer kann schnell eine Webseite bauen? Im klassischen, hierarchischen Unternehmen würde bei so einer Frage erst mal ein Auftrag formuliert, der dann durch die Abteilungen wandert. Wer auf einem Floß sitzt, muss sich selbst die passende Person suchen – oder lernen, wie man Webseiten baut."
Nicht jeder habe Lust darauf, auf einem Floß zu arbeiten, sagt Habicher, "aber die, die Lust darauf haben, sind mit vollem Engagement dabei". Und das, obwohl im Schnitt nur drei von zehn Projekten die Transformation zum Ruderboot schafften. Der Schlüssel zum Extra-Engagement der Mitarbeitenden: Selbstbestimmung. "Jeder kann wählen, an was und mit wem er arbeiten will", sagt Habicher. Das setze ungeahnte Ressourcen frei.
Schluss mit internen Machtkämpfen
Menschen arbeiten kreativer, produktiver und motivierter, wenn keine Hierarchien dazwischenfunken, da sind sich New-Work-Vorreiter einig. "Wenn man weiß, wofür man sich ins Zeug legt, ist man ein ganz anderes Wesen", sagt Gernot Pflüger, Geschäftsführer der Kommunikationsagentur CPP Studios aus Offenbach. Er hat schon vor mehr als 30 Jahren Hierarchien in seiner Firma abgeschafft und würde in keinem anderen Umfeld mehr arbeiten wollen.
In seinem Unternehmen halte jeder jedem den Rücken frei, sagt Pflüger: "Der ganze Kram, mit dem man sich üblicherweise beschäftigt: Wer sägt gerade an meinem Stuhl? Habe ich eine Zukunft? Wird die nächste Restrukturierungswelle mich hinausspülen? Das alles wird abgemildert, denn wenn es passiert, passiert es allen." Das bedeute auch: Statt Energie in Machtkämpfe zu stecken, könne man sich auf die eigentliche Arbeit konzentrieren.
Pflüger ist überzeugt, dass seine Firma dank der hierarchielosen Organisation auch Krisen besser bewältigt. 2001 standen er und seine Kollegen nach einem Zahlungsausfall eines Kunden vor der Frage: Kündigen wir einem Drittel der Leute? Oder verzichten wir alle auf einen signifikanten Teil unseres Gehalts? "Die Entscheidung war in einer halben Stunde gefallen", sagt Pflüger: Alle verzichteten, niemand musste gehen.

Gernot Pflüger im Gespräch mit Sandrina Lorenz
Foto: manager magazinFür die sechste Folge unserer neuen Podcast-Reihe "Arbeitspioniere" hat Sandrina Lorenz mit Gernot Pflüger gesprochen - der Geschäftsführer der Kommunikationsagentur CPP Studios hat Hierarchien in seiner Firma schon vor über 30 Jahren abgeschafft. Hier erfahren Sie, was ihn zu diesem radikalen Schritt bewegt hat und warum das Ende der Karriereleiter nicht gleichzeitig das Ende von Einfluss bedeutet.
"Wenn die Arbeit Spaß macht und man das Gefühl hat, wirklich etwas voranzubringen, dann wird eben nicht nach Stechuhr gearbeitet", bestätigt auch Arbeitssoziologin Stephanie Porschen-Hueck, die Unternehmen erforscht, in denen Mitarbeiter das Sagen haben. Aber sie sagt auch: "Der Druck, den der Einzelne auf sich selbst ausübt, ist hoch."
Bei der Haufe Group gibt es aktuell Bestrebungen, dass Teams, die den Sprung zum Ruderboot schaffen, Anteile an ihrer neuen Geschäftsidee erhalten. Das bedeutet aber auch: Der Druck wächst.
"Konzepte zur agilen Arbeit sollen Mitarbeiter zwar entlasten, aber sie bergen eben auch die Gefahr der Selbstoptimierung", sagt Porschen-Hueck. "Die Mitarbeiter nehmen den Marktdruck auf, so werden diese Ansätze letztlich zu einem neuen Instrument zur Leistungsintensivierung."
Rund 40 Geschäftsideen wurden in der Haufe Group in den vergangenen neun Monaten von Kollegenteams vor einer Auswahljury präsentiert. Sieben Flöße entstanden daraus. "Wer keinen Zuschlag kriegt, ist natürlich erst mal enttäuscht, aber wir achten darauf, wertschätzendes Feedback zu geben, um niemanden zu demotivieren", sagt Schaar.
Eine weitere Herausforderung, die das Konzept mit sich bringt: Was passiert zum Beispiel mit Kollegen, die aus einem Ruderboot aussteigen? Bei Haufe landen Mitarbeitende in diesem Fall in einem sogenannten Talent-Pool, aus dem sie zum Beispiel von zukünftigen Floß-Kapitänen angeheuert werden können - oder zurück ins klassische, hierarchisch aufgebaute Unternehmen wechseln können.
"Es gibt Leute, die lieber in einer Hierarchie arbeiten wollen", sagt Habicher. "Denn auch das hat seine Vorteile: Ich kann pünktlich Feierabend machen, habe klar umrissene Aufgaben." Zu jeder Lebensphase eine passende Arbeitsumgebung zu bieten, auch das sei künftig Aufgabe eines jeden Unternehmens.
Fazit
Mitarbeitende mitreden und selbstverantwortlich arbeiten zu lassen, kann Firmen neue Impulse verleihen: Ohne Vorgaben vom Chef lassen sich Ideen und Talente leichter einbringen. Wenn nicht mehr die gefragt werden, die auf der Karriereleiter weiter oben stehen, sondern die, die sich am besten mit einem Thema auskennen, bringt das alle weiter. Aber Hierarchien sind nicht per se schlecht. Sie können auch entlasten. Denn das Arbeiten ohne Boss birgt die Gefahr, dass der Marktdruck an die Mitarbeitenden weitergegeben wird - und letztlich zu einem Instrument der Leistungsintensivierung wird.
Tipps für Firmen, die Hierarchien abschaffen wollen
Werden Sie sich über Ihre Erwartungen klar. Was wollen Sie mit diesem Schritt erreichen? Welche Werte und Prinzipien sind Ihnen wichtig? Hierarchielose Firmen sind in der Regel innovativer, aber nicht unbedingt effizienter als Firmen, in denen es klare Führungsebenen gibt.
Gehen Sie die Veränderung behutsam an. Sprechen Sie mit allen Mitarbeitenden: Welche Erwartungen, Hoffnungen und Ängste haben Sie?
Klären Sie die Rahmenbedingungen: Wer darf künftig wann was entscheiden? Wie sind die Entscheidungswege, wenn jemand eine innovative Idee hat?
Holen Sie sich externe Hilfe. Mitarbeitende brauchen Zeit und Coaching, um sich auf die neue Situation einzustellen.