Werkvertragsarbeiter in der Fleischindustrie
"Viele schämen sich, sie wollen keine Opfer sein"
Der Corona-Lockdown bei Tönnies offenbart die Missstände von Werkvertragsarbeitern in Fleischfabriken. Yulia Lokshina hat drei Jahre lang an einem Dokumentarfilm über sie gearbeitet. Was sagen die Menschen?
Die Arbeitsbedingungen von Arbeitern in der Fleischindustrie sind seit Jahren umstritten
Foto: imago stock&people/ imago images/Westend61
Ein Mann, er arbeitet in einer großen Fleischfabrik, gerät in eine Maschine, die sonst Schweine in Einzelteile zerlegt. Er stirbt. Sein Kollege muss alles mit ansehen. Ein "tragischer Arbeitsunfall", sagen Polizei und Berufsgenossenschaft später. "In den Hallen ist es so laut, das muss man erst einmal mitkriegen", sagen sie auch. Der Fall war der Regionalzeitung nicht mehr als eine Randspalte wert. Die Münchner Filmemacherin Yulia Lokshina, 34, hatte bereits zuvor über das Schicksal sogenannter Waldmenschen gelesen: Arbeiter in Fleischfabriken, die in Wäldern leben, weil sie ihre Wohnung verloren haben. Wie kann es sein, dass es kaum jemanden interessiert, wenn heute Menschen in Deutschland so leben und arbeiten, fragte sich Lokshina. In ihrem Dokumentarfilm "Regeln am Band, bei hoher Geschwindigkeit" erzählt sie die Geschichten der Menschen.
SPIEGEL: Frau Lokshina, Sie haben über mehrere Jahre im ganzen Land Dutzende Arbeiter aus Fleischfabriken getroffen. Wie haben Sie die Menschen erlebt?
Lokshina: Viele von ihnen waren sehr vorsichtig, auch skeptisch und irritiert, dass man sich für sie und ihre Geschichten interessiert. Die Frage kam auf: Was hast du für ein Interesse, dich mit mir zu befassen? Es braucht Zeit, um das Vertrauen dieser Leute zu gewinnen, die in einer Parallelgesellschaft leben.
SPIEGEL: Wie sieht diese Parallelgesellschaft aus?
Lokshina: Es ist ein System der Abhängigkeit. Die Menschen kommen von weit her für einen unsicheren Job, an dem auch ihre Unterkunft geknüpft ist. Sie arbeiten extrem hart. Verlieren sie die Arbeit, ist auch ihre Wohnung weg. Die Frage, die sich stellt, ist immer die gleiche: Hast du das Rückgrat, um zu bestehen - oder brichst du weg? Das Bitterste ist, dass unser Sozialsystem die Menschen nicht auffängt.
SPIEGEL: Wie haben Sie Zugang zu diesen Menschen bekommen?
Lokshina: Das war nicht einfach. Ich habe es direkt an den Werken und Unterkünften versucht, aber auch über Beratungsstellen und Privatpersonen, die sich schon lange für eine bessere Situation der Werkvertragsarbeiter einsetzen. Viele Menschen habe ich kennengelernt, aber auch den Kontakt wieder verloren. Sie arbeiten in instabilen Verhältnissen, da ist es nicht einfach, eine menschliche Bindung entstehen zu lassen. Viele von ihnen, die in extremen Verhältnissen leben, wollen nicht sprechen, weil sie sich schämen. Sie wollen keine Opfer sein. Andere, die es weniger hart trifft, möchten nicht mit diesem Leid in Verbindung gebracht werden. Am Ende ist die Fleischindustrie eine Welt, die sehr verschlossen ist.
"Wir haben diese Produktionsverhältnisse viel zu lange geduldet und es sehr weit kommen lassen"
Yulia Lokshina
SPIEGEL: Gibt es eine Begegnung, die Ihnen besonders in Erinnerung geblieben ist?
Lokshina: Ja, ein litauisches Paar erzählte uns von der Angst, nachts von ihren Nachbarn überfallen zu werden. Beide, das Paar und die Nachbarn, arbeiten in der Fleischindustrie. Es ist bekannt, dass die Arbeiter ihr Geld bei sich und nicht auf der Bank haben. Das ist so eine starke Form von Vereinzelung. Menschen existieren dort nur allein oder in Kleingruppen, da ist es schwer, solidarisch zu bleiben.
SPIEGEL: Hat das Interesse an Ihrem Film durch die Vorfälle bei Tönnies zugenommen?
Lokshina: Ja, es ist deutlich mehr geworden. Meine Rolle als Filmemacherin ist eine andere als die von Politikern. Dennoch versuche ich damit verantwortlich umzugehen. Ich kann nicht erst einen politischen Film machen und mich dann aus der Diskussion herausziehen. Wir haben diese Produktionsverhältnisse viel zu lange geduldet und es sehr weit kommen lassen. Ich habe jetzt die Position und die Möglichkeit, mich zu diesen Verhältnissen zu verhalten und kritisch zu äußern.
"Am Ende ist die Fleischindustrie eine Welt, die sehr verschlossen ist."
Yulia Lokshina
SPIEGEL: Was möchten Sie mit Ihrem Film verändern?
Lokshina: Wir wollten die Idee und Funktionsweise einer Parallelgesellschaft filmisch aufarbeiten. Es ging uns nicht darum, einen Film über eine abgekoppelte Misere zu machen. Der Film bietet eine Möglichkeit, über unsere Nicht-Betroffenheit nachzudenken: Wir haben vielleicht Mitleid mit diesen Menschen, aber eigentlich wollen wir nichts mit ihnen zu tun haben.
"Regeln am Band, bei hoher Geschwindigkeit", 92 Minuten, Kinostart: 22. Oktober.
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Die Arbeitsbedingungen von Arbeitern in der Fleischindustrie sind seit Jahren umstritten