»Man gehört nicht richtig dazu« Warum Chefs Arbeiterkinder fördern sollten

»Aufsteiger«-Gründerin Stefanie Mattes: »Ich war eine Spätzünderin«
Foto: aufsteiger.orgDieser Artikel gehört zum Angebot von SPIEGEL+. Sie können ihn auch ohne Abonnement lesen, weil er Ihnen geschenkt wurde.
SPIEGEL: Frau Mattes, haben Sie als Kind jemals daran gedacht, Chefin zu werden?
Mattes: Chefin wollte ich schon immer sein. Ich bin im Dorf groß geworden, da war ich immer die Bandenführerin. Aber ein Team in einem Unternehmen zu leiten – das war außerhalb meiner Realität. In meinem Umfeld gab es niemanden, der in einer Firma Karriere gemacht hat. Ich konnte mir also nichts darunter vorstellen.
Stefanie Mattes, Jahrgang 1975, wuchs am Fuße der Schwäbischen Alb auf. Ihre Eltern arbeiteten beide in der Krankenpflege, sie studierte als Erste in der Familie, Jura. Heute ist sie Führungskraft im Bereich »Post Merger Integration« in einem Großkonzern. Außerdem hat sie die gemeinnützige und spendenfinanzierte GmbH »Aufsteiger « gegründet, die Arbeiterkinder mit Fach- und Führungskräften in unterschiedlichen Unternehmen als Mentees und Mentoren zusammenbringt.
SPIEGEL: Laut dem Stifterverband beginnen später nur 27 Prozent der Grundschülerinnen und -schüler aus einem Nichtakademikerhaushalt ein Studium. Bei Akademikerkindern sind es 79 Prozent.
Mattes: Dementsprechend wenig Arbeiterkinder machen am Ende auch Karriere in Unternehmen – und sind dort in der Minderheit. Ob jemand aus einem Akademikerhaushalt stammt, wie man in der Kindheit finanziell ausgestattet war oder wie groß der Selbstwert ist, sieht man nicht auf den ersten Blick. Trotzdem kann es dazu führen, dass man sich im Verhalten unterscheidet.
SPIEGEL: Inwiefern?
Mattes: Mein Lieblingsbeispiel: der Skiurlaub. Wenn man aus einem prekären Haushalt kommt, hat man häufig nicht gelernt, Ski zu fahren. Wenn man dann als Team einen Ausflug in die Berge plant, kann man eben nicht mitmachen. Umgekehrt bleibt bei den Kollegen vielleicht ein komisches Gefühl zurück, das sich nur schwer festmachen lässt. Man gehört nicht richtig dazu.
SPIEGEL: Wann haben Sie gemerkt, dass Sie gegenüber Akademikerkindern Nachteile haben?
Mattes: Ich war eine Spätzünderin. Mir ist erst vor zwei, drei Jahren klar geworden, dass ich eine Aufsteigerin bin. Zu dem Zeitpunkt wollte ich mich beruflich verändern und hatte Kontakt zu Headhuntern. Normalerweise erzähle ich nicht, dass meine Eltern in der Krankenpflege gearbeitet haben. Damals ließ ich es in einem Nebensatz fallen – und ein Headhunter sagte mir: Naja, dann seien Sie doch froh, dass Sie so weit gekommen sind. Ein anderer sprach davon, dass mein Lebenslauf schon in Ordnung sei, aber mir das Netzwerk nach oben fehle.
Mein Werdegang war nicht der einfachste, immer wieder gab es Herausforderungen – trotzdem hätte ich nicht gedacht, dass es teilweise auch daran lag, dass ich wenig Unterstützung hatte. Vor ein paar Jahren dachte ich dann: Vielleicht betrifft das nicht nur mein Leben, sondern ist ein strukturelles Problem.
SPIEGEL: Haben Sie deshalb »Aufsteiger« gegründet?
Mattes: Die Initialzündung kam, als ich selbst Mentorin bei unterschiedlichen Organisationen war. Das Ziel von einem Programm: Kinder mit schwierigen Startbedingungen etwa mit Mentoring von der Grundschule bis zum Abitur zu begleiten, damit sie ihre Kompetenzen ausbauen können. 2018 hatte ich zwei gleichaltrige, ähnlich talentierte weibliche Mentees. Eine war eine unbegleitete Geflüchtete aus Afghanistan, die deshalb erst mit 21 Jahren ihr Abitur machen konnte. Zwischen Abitur und Studium musste sie dann sozialversicherungspflichtig arbeiten, um krankenversichert zu sein. Sie war in einer Modekette tätig. Die andere war zeitgleich während ihres Bachelorstudiums drei Monate in Hongkong. Zwei völlig unterschiedliche Lebensläufe.
Stefanie Mattes, Gründerin von »Aufsteiger«
Jetzt verbinden wir mit »Aufsteiger« Arbeiterkinder und Fach- und Führungskräfte in Unternehmen als Mentoren und Mentees. So können sie ihre Geschichten, ihr Wissen und ihre Erfahrungen auf Augenhöhe austauschen und bekommen Zugang zu Netzwerken, die für den eigenen Werdegang hilfreich sein können.
SPIEGEL: Das Gefühl, nicht dazuzugehören, haben Arbeiterkinder mitunter schon vor dem ersten Job. Wie oft haben Sie während Ihres Jurastudiums gedacht, dass Sie fehl am Platz sind?
Mattes: Jura habe ich vor allem deshalb studiert, weil das ein Kompromiss mit meinen Eltern war. Sie wollten, dass ich sicheres Geld verdiene. Damals hätte ich jemanden gebraucht, der mir sagt, wie wichtig ein Plan B ist. Bis zu einem gewissen Punkt hat ja immer alles funktioniert, wenn ich nur ordentlich gelernt habe. Zwei Staatsexamen habe ich so bestanden, dann wollte ich in den diplomatischen Dienst – und bin an der Aufnahmeprüfung des Auswärtigen Amts gescheitert. Heute sage ich meinen Mentees zuerst: Arbeitet einen Plan B aus, damit das Loch, in das ihr fallt, nicht so tief ist.
SPIEGEL: Dieser Ratschlag ist ja sicher nicht nur für Arbeiterkinder hilfreich.
Mattes: Andere fallen häufig aber nicht so tief. Ich war danach arbeitslos und musste schnell schauen, woher Geld kommt. Ich will nicht pauschalisieren, aber Kinder mit akademischem Hintergrund haben häufiger die Möglichkeit, auch solche Zeiten finanziell zu überbrücken. Meist gibt es einen Plan B oder C – und Menschen, die im Netzwerk bei der Planung und Umsetzung unterstützen können.
Stefanie Mattes, Gründerin von »Aufsteiger«
SPIEGEL: Wogegen kämpfen Arbeiterkinder noch?
Mattes: Als Arbeiterkind wandelt man häufig zwischen zwei Welten. Manchmal können die Eltern gar nicht nachvollziehen, womit man sich eigentlich beschäftigt. Erst kürzlich hat mir jemand, der im Homeoffice arbeitet, vom Besuch seiner Eltern erzählt. Drei, vier Tage später hätte die Mutter ihn angerufen – um sich zu vergewissern, dass er nichts Illegales mache. Sie dachte: Wer den ganzen Tag am Rechner sitzt, kann ja kein Geld verdienen. Gerade, wenn man jung ist und sich noch auf die Akzeptanz der Eltern angewiesen fühlt, kann das schwierig sein. Man hat das Gefühl, den richtigen Weg für sich gefunden zu haben – aber die eigenen Eltern verstehen oder unterstützen es nicht.
Und gleichzeitig kann man sich auch unter Kollegen, die einen anderen Hintergrund haben, unwohl oder unerwünscht fühlen. Bei dem einen ist man nicht richtig draußen, bei dem anderen nicht richtig drinnen. Diesen Übergang auszuhalten und sich vielleicht sogar klar zu positionieren, muss man lernen. Im Idealfall versteht man, mit diesem Spannungsfeld umzugehen, und sich nicht zu verstellen.
SPIEGEL: Und wie?
Mattes: Indem man in Erzählungen immer wieder etwas vom eigenen Hintergrund einflicht, schaut, was passiert, und ob das Gegenüber interessiert nachfragt. Ereignisse aus der Kindheit haben die Persönlichkeit mitgeprägt und das eigene Verhalten geformt. In vielen Unternehmen wird mittlerweile über gleichberechtigte Bezahlung und Frauen in Führungspositionen gesprochen. Diskussionen über den sozialen Hintergrund werden aber noch zu selten geführt. Dass es per se weder gut noch schlecht ist, wenn Lebenswege unterschiedlich verlaufen – diese Transparenz muss in vielen Unternehmen erst hergestellt werden.
SPIEGEL: Immer öfter rühmen sich Unternehmen damit, diverse Bewerberinnen zu rekrutieren. In Führungspositionen sitzen trotzdem häufig noch die mit großen Namen im Lebenslauf.
Mattes: Dass jemand bei McDonald's gearbeitet hat, sollte im Lebenslauf genauso stehen wie Praktika oder Auslandssemester. Es ist kein Pluspunkt, darf aber vor allem kein Minuspunkt sein. Führungskräfte sollten also in Stellenanzeigen konkret dazu ermutigen, solche Tätigkeiten transparent zu machen. Das sind ja keine Lücken. Ähnlich wie bei der Frauenquote in Vorständen geht es doch um den Austausch von Perspektiven und um Diversität. Ist nicht nur eine Person im Team, die einen sozialen Aufstieg hinter sich hat, sondern drei, verändern sich auch die Diskussionen, die Geschichten und Kompetenzen. Viele Mentoren erzählen mir: Ihre Mentees hätten eine ungemeine Power. So einen Weg ohne Netzwerk und Unterstützung zu gehen, erfordert häufig viel Willenskraft.
Stefanie Mattes, Gründerin von »Aufsteiger«
SPIEGEL: Wie können Chefs Arbeiterkinder im Unternehmen fördern? Es ist ja nicht immer klar, welcher Mitarbeitende wo herkommt.
Mattes: Dann sollten sie sich Zeit für die Geschichten ihrer Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen nehmen. Das zeichnet für mich eine gute Führungskraft aus. Daraus ergeben sich schließlich Stärken und welche Positionen Mitarbeiter im besten Fall im Unternehmen einnehmen können. Wenn Kollegen oder Abteilungsleiter für Nachteile aufgrund von sozialer Herkunft wenig Bewusstsein haben, ist das ja oft nicht böswillig. Daher lohnt es sich für Führungskräfte, darauf hinzuweisen, dass nicht alles leistungsbasiert ist. Manchen Menschen sind bestimmte Sachen erst aufgrund ihrer Privilegien möglich, anderen bleiben sie verwehrt. Am Ende des Tages geht es doch darum, wieder mehr über Chancengerechtigkeit nachzudenken.
SPIEGEL: Was haben Sie von Ihren Eltern über Führung gelernt?
Mattes: Dadurch, dass sie in einem Krankenhaus angestellt waren, konnte ich mir von ihnen nichts über direkte Mitarbeiterführung abschauen. Aber ich weiß, dass sie mich in meiner Persönlichkeit und meinen Werten geprägt haben, die mich heute als Führungskraft auszeichnen.
Ein Krankenhaus ist eine sehr hierarchische Organisation. Ich weiß noch, wie wütend mich Geschichten von ihnen am Küchentisch gemacht haben. Über manche Ärzte, die meine Eltern trotz ihrer Erfahrung und Kompetenz nicht wertgeschätzt und das auch offen gezeigt haben. Ich habe ja gesehen, wie viel sie gearbeitet haben: Meine Mutter hat Nachtschichten gemacht, mein Vater Vollzeit gearbeitet – und zusammen haben sie vier Kinder großgezogen. Umgekehrt haben meine Eltern Menschen, die in dieser Struktur vermeintlich unter ihnen standen, nie abgewertet. Ich habe von ihnen gelernt, wie wichtig Respekt, Integrität und Wertschätzung ist – genauso wie das Revoluzzer-Verhalten, wenn jemand schlecht behandelt wird.
Waren Sie auch die erste Person in der Familie, die studiert hat? Mit welchen Herausforderungen hatten Sie beim Berufseinstieg zu kämpfen? Sprechen Sie mit Ihren Kolleginnen und Führungskräften darüber, dass Sie aus einer Arbeiterfamilie stammen? Gab es Situationen, in denen Sie das Gefühl hatten, Sie würden im Team aufgrund Ihrer sozialen Herkunft nicht dazugehören? Schicken Sie uns eine Mail mit Ihren Erfahrungen und Erlebnissen im Unternehmen.
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