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Azubi-Mangel Warum das Handwerk boomt - und trotzdem Nachwuchs fehlt

Wer ein Haus bauen oder renovieren will, muss wochenlang auf Dachdecker oder Klempner warten: Die Auftragsbücher der Handwerker sind voll. Trotzdem finden sie keine Lehrlinge. Woran liegt das?
Charly (links) und Marvin testeten 44 Handwerksberufe - und studieren nun beide

Charly (links) und Marvin testeten 44 Handwerksberufe - und studieren nun beide

Foto: Deutsche Handwerkskammer (DHKT)

Das Video beginnt im Morgengrauen. Ein junger Mann und eine junge Frau fahren im Auto, im Hintergrund ist der Hamburger Hafen zu erkennen, die Frau gähnt und lacht. "Moin", sagt sie. Dann werden ihre Namen eingeblendet, schräg, in Comic-Schrift mit Hashtags: #Marvin und #Charly. Beide tragen ein T-Shirt mit den Umrissen einer Deutschlandkarte. "Die Rekordpraktikanten" steht darauf, "ein Wahnsinns-Trip durchs Handwerk".

Die Imagekampagne war groß angelegt. Fünf Monate lang, von August bis Dezember 2017, reisten die Abiturienten Marvin und Charlotte, Spitzname Charly, im Auftrag des Zentralverbands des Deutschen Handwerks 5800 Kilometer quer durch Deutschland, um knapp vier Dutzend Handwerksberufe zu testen und auf YouTube, Instagram und Facebook Gleichaltrige dafür zu begeistern. Nun, ein Dreivierteljahr später, beginnen beide ein Studium. Charly wird Internationales Management studieren, Marvin Fahrzeugbau.

Es ist ein unglückliches, aber leider auch typisches Ende einer Aktion, die vor allem ein Hilferuf war - denn im Handwerk fehlen derzeit so viele Fachkräfte, dass sogar der Bau neuer Wohnungen gefährdet ist. Eine Studie der staatlichen Förderbank KfW kommt zu dem Schluss, dass zur Bekämpfung der Wohnungsnot in Deutschland bis 2020 jährlich 350.000 bis 400.000 neue Wohnungen gebaut werden müssten - es dafür aber gar keine Handwerker gibt.

Zehn bis zwölf Wochen Wartezeit für ein neues Dach

Laut Bundesagentur für Arbeit fehlen derzeit im Handwerk 150.000 Fachkräfte, aber der eigentliche Mangel sei noch viel größer, sagt Handwerkspräsident Hans Peter Wollseifer: Viele Betriebe meldeten ihre offenen Stellen schon gar nicht mehr. Er schätzt die Zahl der fehlenden Fachkräfte auf 200.000 bis 250.000.

Bei Notfällen wie Sturm- oder Wasserschäden seien Handwerker noch immer schnell zur Stelle, sagt Wollseifer, aber: "Wenn man ein neues Dach will, weil es erneuert werden soll, dann kann es sein, dass man zehn bis zwölf Wochen warten muss." Und das werde sich in absehbarer Zeit auch nicht ändern.

Die Auftragsbücher vieler Handwerker sind prall gefüllt und können kaum abgearbeitet werden. Lehrlinge im Bauhauptgewerbe - also zum Beispiel angehende Maurer oder Zimmerer - gehören mittlerweile zu den bestverdienenden Azubis: Knapp 1500 Euro brutto bekommen sie im dritten Ausbildungsjahr pro Monat, in Ostdeutschland etwas weniger.

Dennoch rechnet Handwerkspräsident Wollseifer damit, dass Ende September noch 20.000 Lehrstellen im Handwerk unbesetzt sein werden. Dies wäre ein weiterer Anstieg: Zum 30. September 2017 waren 15.297 Ausbildungsplätze im Handwerk unbesetzt, "trotz der sehr guten Zukunfts- und Berufsperspektiven", wie der Handwerkspräsident betont. Die Umsätze im Handwerk steigen seit Jahren, allein zwischen 2016 und 2017 um 3,4 Prozent auf 581 Milliarden Euro. Woran hapert es also?

Laut Wollseifer vor allem an "Anerkennung für das Handwerk" und "Wertschätzung für berufspraktische Ausbildung und Arbeit". "Das verschärft sich immer mehr", sagt er, "weil es einerseits immer weniger Schulabgänger und andererseits den Drang zum Studium gibt."

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Pläne nach der Schule: "Handwerk? Bestimmt toll, aber nichts für mich"

Foto: Paula Markert/Joy Kröger

Tatsächlich gibt es in Deutschland laut Statistischem Bundesamt einen "Trend zur Höherqualifizierung", das heißt: Immer mehr Jugendliche verlassen die Schule mit Abitur oder Fachabitur. Und mit Abitur eine Ausbildung zu beginnen, für die eigentlich nur ein Hauptschulabschluss nötig ist, erscheint vielen als "risikoreiche Verschwendung ihres Bildungsaufwands". Zu diesem Schluss kommt eine Studie des Bundesinstituts für Berufsbildung (BIBB) , die der Frage nachgeht, warum Betriebe und Jugendliche nicht mehr zueinanderfinden.

61 Prozent der unbesetzten Lehrlingsstellen sind solche, für die ein Hauptschulabschluss als Mindestzugangsvoraussetzung definiert wurde - und das trifft auf die meisten Handwerksberufe zu. Ausbildungsplätze, für die ein Abitur oder eine Fachhochschulreife verlangt wird, können dagegen in der Regel problemlos besetzt werden.

"Jugendliche achten auch darauf, welche Folgen der gewählte Beruf für ihre soziale Identität hat", heißt es im BIBB-Bericht. "Bei Berufen mit höheren Anteilen an Hauptschulabsolventen vermuten sie häufiger negative Reaktionen. Sie glauben, dass Personen in diesen Berufen von ihren Mitmenschen als eher ungebildet, wenig intelligent und einkommensschwach eingestuft werden." Hinzu kämen Vorbehalte gegenüber Berufen mit überwiegend körperlicher Tätigkeit. Früh aufstehen, hart arbeiten, wenig verdienen - das ist der Dreiklang, der Handwerksberufen offenbar noch immer anhaftet und viele abschreckt.

Eltern reden Kindern Ausbildungsberufe aus

Elisabeth Krekel vom BIBB sagt, sie habe auch schon häufiger erlebt, dass es gar nicht die Jugendlichen sind, die manche Berufe von vornherein ablehnen, sondern die Eltern. Sie redeten ihren Kindern die Berufswünsche aus.

Auch die Deutsche Kinder- und Jugendstiftung kommt in einer Studie  zu dem Ergebnis, dass viele Eltern und Lehrer Jugendlichen eher dazu raten, einen möglichst hohen akademischen Abschluss zu erzielen, als eine Ausbildung zu beginnen. "Könnte man Friseur studieren, wäre für viele die Welt bereits in Ordnung", wird in der Studie eine Bildungsberaterin zitiert.

Im Fall von Cedrik Knöpfle, 22, aus Löffingen in Baden-Württemberg waren es nicht die Eltern, die ihm die Ausbildung zum Fliesenleger ausreden wollten - sondern die Lehrer. "Manche haben Sprüche gebracht wie: 'Wie blöd kann man sein, mit Abi auf den Bau zu gehen?'", sagt er.

Cedrik Knöpfle

Cedrik Knöpfle

Foto: WorldSkills Germany / Frank Erpinar

"Sie meinten, der Beruf biete keine spannenden Projekte, ich würde mir den Körper kaputt machen und bei der harten Arbeit komme nicht mal was Schönes heraus. Auch Bekannte haben teilweise gefragt, warum ich nicht studieren möchte, mit einem Studium hätte ich doch bessere Perspektiven." Er selbst habe seine Entscheidung nie bereut, der Beruf mache ihm viel Spaß und von seinem Gehalt könne er gut leben.

Charly sagt, dass sie durch ihre 44 Handwerkspraktika viele Vorurteile abbauen konnte, sich aber einige auch bestätigt haben. "In den Wintermonaten draußen zu arbeiten, das ist mir zu kalt", ist zum Beispiel ihr Fazit nach zwei Novembertagen auf einer Baustelle. Auf dem Bau seien Frauen ohnehin nicht gut aufgehoben, findet sie: "Wir haben da einfach körperliche Nachteile." Und viele Baubetriebe hätten noch nicht mal Frauentoiletten.

Charly und Marvin waren als Praktikanten auch bei einem Dachdecker

Charly und Marvin waren als Praktikanten auch bei einem Dachdecker

Foto: Deutsche Handwerkskammer (DHKT)

Sie lernte aber auch Berufe kennen, die ihr viel Spaß machten, am besten gefiel es ihr beim Fotografen und beim Sattler. Ihr wurde dort ein Ausbildungsplatz in Aussicht gestellt - aber sie lehnte ab, weil sie nebenbei modeln will und "die Anwesenheitspflicht an der Uni nicht so streng ist".

Marvin fühlte sich vor allem beim Kfz-Mechatroniker und beim Ofenbauer wohl. Trotzdem hat auch er sich gegen eine Ausbildung entschieden. Dass er selbst durch seinen Praktikumsmarathon seinen Traumjob finden würde, sei nicht das Hauptziel der Reise gewesen, sagt er: "Wir waren ja immer nur zwei Tage vor Ort. Das ist viel zu kurz, um sich für einen Beruf zu entscheiden, den man dann ein Leben lang machen soll."

Vielleicht ist das auch einer der Gründe, die viele Jugendliche vor einer Ausbildung zurückschrecken lassen: die vermeintlich fehlende Flexibilität. Ein Studienfach kann man nach einem Semester ohne große Mühe und Rechtfertigungen wechseln. Ein Ausbildungsvertrag muss gekündigt werden, es stehen Gespräche mit Chefs und Kollegen an.

Und viele Handwerksberufe scheinen Jugendliche auch schlichtweg nicht zu interessieren. Daran konnten auch Charly und Marvin nichts ändern. Auf Facebook kamen die Beiträge der beiden im Schnitt auf gerade mal 20 Likes, auf Instagram auf rund 100. Auf YouTube wurde ihr Video über den Einsatz als Textilgestalter ganze 147 Mal angeklickt. Auf mehr als 1000 Aufrufe kommen nur die ersten fünf YouTube-Videos der "Rekordpraktikanten": Dachdecker, Ofenbauer, Tischler, Feinmechaniker und Anlagenmechaniker.

Fairerweise muss aber auch gesagt werden, dass nicht nur die Jugendlichen wählerisch sind. Viele Unternehmen geben sich trotz des Fachkräftemangels erstaunlich wenig Mühe, auf junge Bewerber einzugehen - und laden junge Menschen mit vermeintlich zu schlechten Abschlusszeugnissen oder fehlenden Sprachkenntnissen erst gar nicht zu Vorstellungsgesprächen ein. Die Zahl der Jugendlichen, die sich vergeblich um Lehrstellen bemühen, hat sich seit 2010 verdoppelt.

mit Material von dpa
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