
Aussortierte Ingenieure: Wir helfen uns selbst!
Aussortierte Ingenieure Wir helfen uns selbst!
Benzin und Schwefel. Schwefel und Benzin. Nicht umsonst nannten die Einheimischen ihre Stadt Rußchamtz. Weil der Ruß, der sich in den grauen Putz fraß und in die Nasenschleimhäute, aus Hunderten Schornsteinen quoll. Und doch schwang immer auch ein trotziger Stolz mit auf das "sächsische Manchester", offiziell Karl-Marx-Stadt, wo nicht der Schöngeist regierte wie in Dresden und nicht der Handel blühte wie in Leipzig - sondern wo man schuftete und Werte schaffte.
Heute heißt die Stadt wieder Chemnitz. Die Luft ist besser geworden, weil nicht mehr viel raucht. Immer wieder klaffen Lücken zwischen den Häuserzeilen, wo früher Fabriken standen. Und am Hauptbahnhof fahren nur noch Regionalzüge ab.
Einen Block weiter steht das Otto-Brenner-Haus, benannt nach dem früheren IG-Metall-Vorsitzenden. Im ersten Stock sitzen neun Männer und fünf Frauen um einen großen Tisch. Sie alle sind hochqualifizierte Ingenieure, älter als 50, und haben seit der Wende keine dauerhafte Arbeit gefunden. Wenn Firmen in der Region über den Fachkräftemangel klagen, wenn ihre Verbände neue Statistiken herausbringen, dann können sie nur bitter lachen. Sie haben erlebt was es heißt, nicht mehr gebraucht zu werden.
Arbeitsloseninitiative will sie sich dennoch nicht nennen, die "Selbsthilfegruppe Chemnitzer Innovative Ingenieure". "Wir wollen nicht in die Resignation abstürzen", sagt Christian Gaudes, Informatik-Ingenieur und Sprecher der Gruppe. Deshalb treffen sie sich seit 1992. Einst haben sie die DDR-Wirtschaft getragen. Heute besichtigen sie zusammen mal die Stasi-Unterlagen-Behörde, mal das städtische Kulturzentrum "Tietz". Sich einigeln, das ist nichts für sie.

Arbeitslose Ingenieure: Wir wurden aussortiert
In den 90er Jahren hat eine Entlassungswelle nach der anderen die Region überschwemmt. Die Ingenieure erzählen, wie beim Kombinat Robotron in Chemnitz 5000 Leute vor die Tür gesetzt wurden - von einem Tag auf den anderen. "Die Massenentlassungen hießen bei uns immer Großflugtag", sagt Helmut Auerbach. Das Lachen bleibt ihm im Hals stecken: Er ist nach der Wende nur vorübergehend als Leihingenieur untergekommen.
Warum die Industrielandschaften im Osten nicht blühen, das konnten die Ingenieure aus nächster Nähe beobachten. "Konkurrenten aus dem Westen sind in die Firmen marschiert und haben sich die Kunden- und Auftragslisten geben lassen, um die Kunden systematisch abzuwerben", erzählt Doris Müller. Der Osten sei zur verlängerten Werkbank für Westunternehmen geworden; die meisten Ostdeutschen seien auch naiv gewesen.
Als sie das sagt, nicken viele in der Runde. Achim Gocht, Spezialist für Datenverarbeitung, formuliert es so: "Uns hat einfach der strategische Blick gefehlt". Zusammenhänge und Ursache-Wirkungs-Ketten erkennen, das war ihr Spezialgebiet. Doch in den Mechanismen des kapitalistischen Arbeitsmarktes fanden sich viele nicht zurecht. "Wir haben uns anfangs gefreut, dass es uns nicht getroffen hat", erklärt Gocht, "aber diejenigen, die vor uns als erste gehen mussten, haben alle ziemlich schnell Arbeit gefunden."
Experten für ABM und Hartz IV
Zum Beispiel in Behörden, die verzweifelt Leute suchten, nachdem der SED-Apparat zusammengebrochen war. Dass sie zunächst scheinbar sicher auf ihren guten Positionen saßen, wurde vielen Ingenieuren zum Verhängnis.
So begann für die meisten eine lange Zeit der Weiterbildung. Mehr als 300 Maßnahmen habe es nach der Wende allein in Chemnitz gegeben. Wolfgang Müller hat eine Weiterbildung im Qualitätsmanagement gemacht - es hat ihm nichts genützt.
Irgendwann ging es für die meisten nur noch darum, wenigstens eine gute Arbeitsbeschaffungsmaßnahme zu erwischen. Sie, die sich früher mit Turbinen oder Schaltkreisen auskannten, sind über die Jahre zu Experten geworden für ABMs, Zuverdienstmöglichkeiten, Hartz-IV-Anträge. Die Arbeitsagentur hat den wenigsten von ihnen geholfen: "Ich habe die längste Zeit als Elektrotechniker gearbeitet", erzählt Helmut Auerbach. "Die Arbeitsagentur hat mich aber immer wieder als Konstrukteur eingestuft. Die wollten das nicht kapieren."
Region hat ihren Stolz verloren
Ein paar aus der Gruppe wollten sich nicht mehr auf die Agentur verlassen und haben sich als Ingenieursgenossenschaft selbstständig gemacht. Sie entwickelten spezielle Computerprogramme für die Industrie. Doch dann kamen aus der Region zu wenige Aufträge, die Firma musste dichtmachen.
Manche haben hinnehmen müssen, dass die Gesellschaft ihr Können nicht gebrauchen mag, und sind frühzeitig in Rente gegangen - aus Mangel an Alternativen. Wenn man älter als 50 ist, kann man noch so gut ausgebildet sein. Dann habe man keine Chance mehr, glaubt die 68-jährige Barbara Auerbach. "Einmal hat eine Krankenkasse auf meinen Bewerbungsunterlagen mein Geburtsjahr umkringelt. Und das haben die mir auch noch so zurückgegeben."
Auch wenn es niemand ausspricht: Der Zerfall der DDR-Industrie, die ständigen Absagen, das alles hat den Stolz verletzt; den Stolz einer ganzen Region. Die Industrie in Chemnitz und dem Erzgebirge hielt den volkseigenen Motor am Laufen. Schon lange vorher war die Region ein industrielles Zentrum: Plauener Spitze und andere Textilien aus dem Vogtland waren schon im 19. Jahrhundert ein Exportschlager. Und in Zwickau baute der Konstrukteur August Horch ein Auto-Imperium auf. Bis heute trägt eine weltbekannte Automarke seinen Namen, wenn auch in der lateinischen Form: Audi.
Den Stolz auf die sächsische Tüchtigkeit, den wollen sich die "innovativen Ingenieure" erhalten. Auch deshalb treffen sie sich noch immer - obwohl viele von ihnen schon längst keine Arbeit mehr suchen. Rolf Unger formuliert es wie ein Ingenieur: "Wenn man einen Bleistift alleine hinstellt, fällt er um. Wenn man aber mehrere mit der Spitze gegeneinander stellt, dann halten sie."