
Traum vom Neuanfang: Bleibt alles anders
Umsatteln im Beruf Der Traum vom anderen Leben
Auf und davon wollte Therese Wander, 32, fast gleichgültig, wohin. Nur weg von den anstrengenden Kunden, den Überstunden, dem Trott im Büro. "Ich dachte, ich bin hier völlig falsch", sagt sie.
Viele Jahre, so kam es ihr vor, hatte sie im Job vertan, bei einer kleinen Unternehmensberatung in München. Aber noch war es wohl nicht zu spät für das richtige Leben. Vielleicht etwas Eigenes aufziehen? Ein kleines Café?
Wander, die eigentlich anders heißt, ging zur Münchner Karriereberaterin Madeleine Leitner. Sitzung um Sitzung besprachen die beiden, wie ein Umstieg auf halber Strecke gelingen könnte. Dann fiel die erlösende Entscheidung: Die Frau bleibt, wo sie ist.
"Viele meiner Klienten wollen unbedingt ein neues Leben anfangen", sagt Leitner. "Aber bei den meisten ist der Änderungsbedarf ziemlich überschaubar. Nur drei von hundert, vielleicht fünf, brauchen wirklich einen anderen Beruf."
Therese Wander lernte erst einmal zu schätzen, was sie hat: die freundlichen Kollegen, die Möglichkeit, selbständig zu arbeiten. "Und das Beraten liegt mir ja auch", sagt sie. Blieb der leidige, zermürbende Rest - und da, so beschloss sie, sollte sich nun einiges ändern.
Heute trete sie tatsächlich mutiger auf, sagt Wander. Nach wie vor kann sie sich die Kunden nicht aussuchen, aber im Gegenzug fordert sie auch mal interessantere Projekte. Und ihre Chefs gestehen ihr das zu. "Ich habe gar nicht gesehen", sagt sie, "wie viel Spielraum ich in meiner Firma habe."

SPIEGEL WISSEN: Gut, besser, ich
Viele Menschen befällt mitten im Leben das Unbehagen, der wahre Beruf warte woanders. Zahllose Berater, auf Neudeutsch Coaches, leben von dieser meist diffusen Sehnsucht. Und manche schüren sie noch nach Kräften: Sie ermuntern die Kundschaft, ihr Leben "grundlegend zu verändern"; sie versprechen den Brückenschlag in eine "Zukunft, die Sie sich wünschen und erträumen". Gemeinsam werde man herausfinden, "wer Sie morgen sein wollen".
In den Medien zirkulieren passende Fallgeschichten von Menschen, die sich quasi neu erfunden haben: Der Anwalt wird Schauspieler. Die Controllerin macht jetzt was mit Mode. Der Manager buckelt endlich im eigenen Weinberg.
Koch, Goldschmied, Bergführerin - Folklore der Arbeitswelt
Diese Geschichten gehören längst zur Folklore des Arbeitslebens. Meist gehorcht die Verwandlung einem romantischen Schema: vorher komplex, nachher einfach und kernig, gern auch naturnah - Koch, Goldschmied, Bergführerin. Die Helden der Angestelltenwelt sprengen ihre Ketten und ziehen aus, einen Traum wahr zu machen. Und sei es nur einen Bubentraum wie im Falle des Schweizer Herzchirurgen, der umschulte auf Lastwagenfahrer - seit Jahren eine vielbesungene Sagengestalt in der Welt der Berufsumsteiger.
"Das sind alles Einzelfälle", sagt die Münchner Beraterin Leitner, "und kaum übertragbar." Dennoch geht ein gewisser Druck zur Selbstverwirklichung von ihnen aus. Wo lauter Schmetterlinge flattern, kommen die anderen sich wie Raupen vor. Wo bleibt meine eigene Metamorphose? Warum bin ich nicht längst schon Tauchlehrerin auf den Seychellen?
Die Geschichten hören sich an, als könnte man seine Zukunft umschreiben wie ein missratenes Drehbuch - und am besten auch gleich noch die Hauptrolle mit einem originelleren Darsteller besetzen.
"Der Zynismus war schrecklich"
Bei den meisten Leuten aber, glaubt Leitner, fallen die sinnvollen Veränderungen weit weniger spektakulär aus: ein anderer Aufgabenzuschnitt, vielleicht eine andere Abteilung. In manchen Fällen mag auch der Schritt in die Selbständigkeit eine gute Lösung sein.
Anna Massih zum Beispiel, 49, studierte Biologin, drehte jahrelang Wissenschaftsfilme. Als freie Mitarbeiterin belieferte sie so ziemlich alle einschlägigen Fernsehsendungen, darunter "Abenteuer Forschung" im ZDF und "Galileo" auf Pro7 - mit stetig abnehmender Begeisterung, weil die fernsehgängigen Themen sich mit der Zeit erschöpften. Schließlich landete sie über eine Produktionsfirma bei RTL II, wo vollends nur noch oberflächliche Filme gefragt waren. Einmal hörte sie, wie Kollegen sich lustig machten über die Beschränktheit des Publikums, das sich mit solcher Ware abspeisen lasse. "Dieser Zynismus", sagt sie, "war schon ziemlich schrecklich."
Auch bei Massih wurde irgendwann der Wunsch übermächtig, etwas völlig anderes zu machen. Sie grübelte lange, sprach mit Freunden und Bekannten. "Ich kam aber auf keinen grünen Zweig", sagt sie. Sie dachte daran, für Amnesty International oder Greenpeace Geld einzutreiben. Allerdings wurde ihr bald klar, dass sie ohne PR-Erfahrung wohl keine Chance hatte.
Geht eine Synapse zur Fortbildung...
Schließlich buchte Massih ein Seminar bei der Beraterin Leitner: Drei Tage lang ging es um nichts anderes als um Tätigkeiten, die in Frage kämen. Und auch bei dieser Klientin kam schließlich heraus, dass allzu viel gar nicht verkehrt war an ihrer Arbeit. Das Filmgeschäft an sich machte ihr Freude, nur die Bedingungen waren unerträglich - vor allem die Abhängigkeit von den Redakteuren der Sender, die immer öfter aufwendig gedrehte Filme eher dürftigen Inhalts bei ihr bestellten.
Die Empfehlung für Massih: raus aus dem Dasein als "feste Freie" - zumal sie deutliche Anzeichen von Führungswillen zeigte. "Ich bin wohl eine Chefnatur", sagt sie. "Eine Freundin meinte nachher, das hätte ich von ihr auch kostenlos hören können."
Heute führt Massih eine eigene Produktionsfirma; von der Besetzung der Filmteams bis zum finalen Schnitt hat sie alles in der Hand. Ihr Hauptkunde ist die Max-Planck-Gesellschaft, eine hochangesehene Wissenschaftsorganisation mit 82 angeschlossenen Instituten in ganz Deutschland. Die Forscher dort steigen den ganz großen Fragen zwischen Kosmos und Hirnzelle nach - oft schwer begreiflich und so ziemlich das Gegenteil von packendem Filmstoff. Aber diese Herausforderung, sagt Massih, sei genau nach ihrem Geschmack. Sie macht jetzt unerschrocken muntere Lehrfilme über Gravitationswellen, neuartige Lichtmikroskope und die Lernfähigkeit von Synapsen.
Manche Klienten brauchen eher einen Therapeuten
Nicht alle Klienten bei Leitner haben das Glück, dass sich gleich neue Möglichkeiten auftun. Vielen gelingt es nicht einmal, die ersten Schritte zu machen - bei ihnen mischen sich psychische Probleme in die allgemeine Unzufriedenheit. Da ist etwa der Manager, der an Kontrollzwang leidet, so dass er sich selbst in kleine Alltagsaufgaben langwierig verbeißt. Da gibt es die tüchtige Klientin mit Sozialphobie, die ängstlich das Rampenlicht meidet, sich im Schatten aber verkannt fühlt. Und manch ein Unzufriedener kultiviert seine Sehnsucht nach dem Umstieg als bloße Fluchtphantasie, deren Verwirklichung er unbewusst unterläuft, weil er die Konsequenzen fürchtet.
Solche Menschen schickt Leitner in der Regel gleich zu erfahrenen Psychiatern. Dass sie selbst diplomierte Psychologin ist, kommt ihr dabei zugute: "Das hilft mir zu erkennen", sagt sie, "bei wem ein Coaching angeraten ist und wer eher therapeutische Betreuung braucht."
Jeder Coach sollte eine psychologische Ausbildung haben, findet Leitner. Ihrer Erfahrung nach gehe es oft um Lebenskrisen und schicksalhafte Entscheidungen. Es ärgert sie, dass die Bezeichnung Coach nicht geschützt ist. "Die meisten haben gerade mal einen Kurs von 150 oder 200 Stunden absolviert", sagt Leitner. Das sei "ein Witz", meint sie. "Und dann stochern sie mit ihren angelernten Phrasen in den kompliziertesten Fällen herum."
Kreuzverhör und dann ein, zwei Vorschläge
Die Düsseldorfer "Entwicklungshelfer" betreiben ihr Coaching jetzt seit 13 Jahren. Sie haben sich etabliert - auch ohne Psychologie-Diplom. Barbara Rörtgen war zuvor in der Werbebranche, Tim Prell hat an einer Kunsthochschule studiert. Ein typisches Muster: Die meisten Coaches sind Quereinsteiger - sie waren sozusagen selbst ihre ersten Kunden. Im früheren Leben arbeiteten sie als Werbeleute, Unternehmensberater, Psychologen, häufig auch als Journalisten.
Die beiden "Entwicklungshelfer" bieten eine sehr spezielle Methode der Berufsfindung an: Die beiden nehmen ihre Klienten jeweils einen Tag lang ins Kreuzverhör; noch am Abend unterbreiten sie ihnen dann, nach kurzer Beratung, einen oder zwei Vorschläge.
Christian Geier, 35, Messeberater in Hannover, hatte selbst mehr Ideen als genug für einen Neuanfang. Sein Job bei der Deutschen Messe AG war es, Aussteller einzuwerben und auf Hallen zu verteilen, Fachgebiet Pneumatik und Hydraulik. "Nach drei Jahren weiß man, wie das Geschäft läuft", sagt Geier. Nach sieben Jahren wollte er raus.
Der Mann hat viele Interessen. Eine davon, dachte er, müsste sich doch zum Beruf machen lassen. Eine Segelschule eröffnen? Ein Hotel führen? Oder doch lieber eine Pizzabude? Auch Innenarchitekt hätte er sich gut vorstellen können. Nebenher half er schon mal als Fitnesstrainer aus. "Irgendwann hat mich das alles wahnsinnig gemacht", sagt Geier. "Ich brauchte jemanden, der mir hilft, mein Herzensding zu finden."
"Die haben mich richtig ausgequetscht"
Vor dem Düsseldorfer Berater-Duo hatten seine Ideen nicht lange Bestand. Würde er sich wirklich den Alltagsbetrieb eines Hotels aufbürden? Interessiert er sich ernsthaft für Innenarchitektur? Liest er denn überhaupt die einschlägigen Magazine? "Die haben mich richtig ausgequetscht", sagt Geier.
Am Abend präsentierten Rörtgen und Prell ihm einen konkreten Vorschlag: eine Ausbildung zum Heilpraktiker für Psychotherapie, Spezialgebiet Beziehungen und Sexualität. "Da war ich wirklich verblüfft", sagt er. "Mit diesem Gedanken hatte ich noch nie gespielt." Aber als er danach seinem besten Freund davon berichtete, sagte der: "Endlich! Das bist doch genau du - Beziehungen!"
Schon immer waren die Freunde zu ihm gekommen, um Rat zu holen, auch wenn es um komplizierte Fragen ging, um Partnerschaften, Sex. Geier kümmert sich gern. Begegnet ihm ein sympathischer Mensch, wird er sofort eingemeindet: "Dann fängt es an, in mir zu rattern", sagt Geier. "Geburtstag? Namen der Kinder?" Er sammelt alle Details, und er vergisst dann auch nicht, sich zu melden und nachzufragen. Erzählt jemand von einem bevorstehenden Vorstellungsgespräch, ruft er zuverlässig hinterher an: Wie ist es gelaufen?
Er ist es auch, der die Familie zusammenhalte, sagt Geier. Er ist rundum der Typ des guten Hirten, allerdings kam ihm das nicht wie etwas Besonderes vor. "Herr Geier hatte soziale Beziehungen nicht einmal unter seinen Interessen genannt, aber es war das Verbindende in allen seinen Äußerungen", sagt die Beraterin Rörtgen.
Selten geht's so radikal zu
Warum studiert so einer auf Wirtschaftsingenieur? Eine gewisse Verblendung, vermutet Geier: Der Vater starb vor seiner Geburt; der Onkel, der ein Unternehmen führte, war sein großes Vorbild. Der Aufstieg an die Spitze einer Firma war das einzige Ziel, das der Neffe sich vorstellen konnte.
Im September hat seine Ausbildung zum Therapeuten begonnen. Nebenher wird Geier weiter als freiberuflicher Messeberater arbeiten, zur Sicherheit.
Aber ist es nicht etwas riskant, dem Klienten nach nur einem Tag des Kennenlernens einfach einen neuen Beruf zu präsentieren? Einen schlüsselfertigen Lebensentwurf, in den er nur noch hineinschlüpfen muss? Berater Prell findet den Wagemut vertretbar: "Ohne konkrete Empfehlung", sagt er, "kann doch niemand den ersten Schritt tun."
Radikale Berufswechsel kommen aber auch bei den "Entwicklungshelfern" nicht so häufig vor. Die Mehrzahl ihrer Klienten bleibt in der Nähe der angestammten Tätigkeit. Trotzdem ist so mancher überrascht, welche Perspektiven sich da noch ausfindig machen lassen.
Angelika Jacobi-Kaulbach beispielsweise, Unternehmerin aus Köln: Zwei Jahrzehnte lang lief es gut im Beruf, ihre kleine Firma hatte zuletzt 21 Mitarbeiter. Sie half Anwaltskanzleien und PR-Agenturen beim Expandieren: neue Kunden anwerben, neue Geschäftsbereiche erobern. Dann kam der 50. Geburtstag, und das zweite Kind ging aus dem Haus.
Schon länger habe sie bemerkt, wie eine schleichende Unzufriedenheit sie auszehrte, sagt Jacobi-Kaulbach: "So ein Geschäft kommt einem ja schon manchmal sinnentleert und hohl vor." Immer maximiert man für andere Erfolg und Gewinn, stets unter dem Druck, gute Zahlen zu machen. Was immer sie tat, es musste sich für den Kunden auszahlen in neuen Kontakten, Terminen, Aufträgen. "Und man gehört nie so richtig dazu", sagt sie. "Der Kunde hat sich ja einfach nur eine Dienstleistung gekauft."
"Niemals hätte ich mir selbst all diese Fragen gestellt"
Es kam der Tag, an dem sie sich fragte: "Willst du das noch weitere 15 Jahre lang machen? Die Antwort war: nein."
Auch Jacobi-Kaulbach durchlief den Befragungsmarathon der "Entwicklungshelfer": Vorlieben, Talente, Erinnerungen an kleine und große Erfolge, die zeigen könnten, worin sie gut ist. "Niemals hätte ich mir selbst all diese Fragen gestellt", sagt sie. Bis zum Schluss allerdings schälte sich für sie keine erkennbare Tendenz heraus.
Umso mehr erstaunte sie der Vorschlag, den sie bekam. Die Berater empfahlen ihr, bei dem zu bleiben, was sie auch bisher mit Erfolg getan hat: Verbindungen spielen lassen, Strategien aushecken - aber von nun an für einen guten Zweck, zum Beispiel für eine Stiftung. Es gebe da ein Aufbaustudium "Stiftungswesen" an der Uni Basel.
Jacobi-Kaulbach hat dieses Studium bereits angefangen. Im April fand sie eine Stelle bei einer international tätigen Stiftung im Gesundheitsbereich.
"Ich bin damit rundum zufrieden", sagt sie. Sie muss nicht mehr Dienstleistungen verkaufen, sondern die Leute für eine gute Sache begeistern: "Es geht darum, Leben zu retten."
Manfred Dworschak ist SPIEGEL-Redakteur im Ressort Wissenschaft und Technik.Interessiert am Thema Veränderung und Selbstoptimierung? Das neue SPIEGEL WISSEN geht unter dem Titel "Projekt Ich - Neue Strategien für ein besseres Leben" ausführlich der Frage nach, was persönliche Weiterentwicklung bedeutet und wie man auf dem Weg zur Selbstverbesserung zwanghaftes Ego-Tuning vermeidet.Heft bei Amazon bestellen: SPIEGEL SHOP