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Ausgehorcht Wie ich Lena um ihren Job brachte

Gute Freunde kann niemand trennen. Es sei denn, eine Pharmafirma horcht das private Umfeld von Bewerbern aus. Verena Töpper gab Auskünfte, ihre Freundin wurde gefeuert. Wer war schuld?
Foto: DPA; SPIEGEL JOB

Ja, ich nutze meine Freundin Lena aus. Alle tun das. Wenn die Nase läuft, der Hals kratzt oder der Fuß schmerzt, rufen wir sie an - unsere "Pharmazinerin". Sie ist Apothekerin, aber für uns ist sie Leibärztin. Lenas Hilferuf kam im Sommer 2013. Sie brauchte Telefonjoker. Zu gewinnen gab es keine Million, sondern einen Job in einem Pharmakonzern. Sechs Personen sollte sie nennen: drei, mit denen sie zusammengearbeitet hat, plus drei, die sie privat kennen. Alle sechs sollten einem Personalberater Fragen über sie beantworten.

Neun Tage nach dem Anruf bei mir wurde Lena gefeuert.

Telefonjoker müssen nicht alles wissen, aber im entscheidenden Moment das Richtige sagen. Das schaffe ich, dachte ich. Mit Lena - ihr Name ist geändert - bin ich seit zehn Jahren befreundet. Als KarriereSPIEGEL-Redakteurin beschäftige ich mich täglich mit Auswahlverfahren. Dass dafür Freunde von Bewerbern befragt werden, war mir neu. Wozu? Was soll das?

Für eine Antwort fliege ich acht Monate nach Lenas Rauswurf nach München. Am Telefon wollte Horst Stemmer, Personalleiter von Servier Deutschland, nicht mit mir reden. Aber in seinem Münchner Büro, mit einem PR-Berater zur Seite. Das Auswahlverfahren seiner Firma sei komplex, sagt er. Es dauere in der Regel drei Monate und koste pro Bewerber eine fünfstellige Summe, inklusive Einarbeitung. "Neben seinen Fähigkeiten interessiert uns auch das Potential, das noch in ihm steckt", so Stemmer. "Wir wollen den Richtigen finden, nicht einfach eine Stelle besetzen."

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Lena hatte sich für die Niederlassung in Österreich beworben. Weltweit arbeiten 20.000 Menschen für die französische Pharmafirma. Jeder Einzelne, vom Trainee bis zum Abteilungsleiter, musste in der Bewerbung drei berufliche und drei persönliche Referenzen nennen. Wenn es auf jede freie Stelle nur zwei Bewerber gab, wurden schon in 120.000 Gesprächen Menschen über ihre Freunde ausgequetscht.

"Wir wollen keine Söldner"

Viele Bewerber seien so gut vorbereitet, dass man kaum noch authentische Vorstellungsgespräche führen könne, sagt Stemmer. Literatur gebe es "geradezu meterweise", Interviewtraining böten "selbst Universitäten" an - also "benötigen wir ein aufwendiges Verfahren". Die Freunde zu fragen habe einen zusätzlichen Vorteil: Schon bevor sie die Stelle bekämen, müssten sich die Kandidaten überlegen, wie sie den Wechsel aus Apotheke oder Krankenhaus in die vermeintlich fiese Pharmabranche rechtfertigen. "Wir wollen keine Söldner, sondern Mitarbeiter, die von ihrer Arbeit überzeugt sind und das auch nach außen zeigen", erklärt Stemmer.

Ein Gespräch mit dem Personalberater erschien mir wie eine WM im Strandschnecken-Weitspucken. Kurios, ein bisschen eklig, aber irgendwie spannend, jedenfalls harmlos. Ich freute mich sogar darauf, wartete ungeduldig auf den Anruf. Wir dachten uns absurde Dialoge aus:

Lena nannte mich nur noch "liebe Referenz". Zu dieser Zeit hatte sie schon zwei Vorstellungsgespräche geführt: mit einer Personalvermittlerin und ihren künftigen Servier-Chefs in Wien. Die interessierte am meisten: ob sie nicht gleich am Montag anfangen könne? Man einigte sich auf Mittwoch. Lena erhielt zunächst einen Dreimonatsvertrag, die Referenzergebnisse und die Zustimmung aus Paris standen ja noch aus. Die Anrufe bei den Freunden schienen schon zur Formalie degradiert.

Doch für Servier zählt nicht allein die berufliche Leistung, die Mitarbeiter sollen "auch menschlich überzeugen und von der geistigen Einstellung zu uns passen", sagt Stemmer. Sieben Werte habe Firmengründer Dr. Jacques Servier als Leitbild definiert: Respekt, Innovation, Bescheidenheit, Humanität, Ehrlichkeit, Beispielhaftigkeit, Leistungsbereitschaft. Die Referenzprüfung solle zeigen, "ob der Bewerber diese Werte teilt".

Der Personalberater meldete sich an Lenas 15. Arbeitstag:

Eine SMS voller Schreibfehler. Dieser Mann soll Zwischentöne am Telefon hören? Von den vier Personalberatern, die im Firmenauftrag Freunde in Deutschland und Europa aushorchen, hätten drei "einen charmanten französischen Akzent", so Horst Stemmer. Die Personalabteilung in Paris suche unabhängige Dienstleister, die Referenzinterviews möglichst persönlich führen und dafür auch quer durch Europa reisen. "Auf ihr Urteilsvermögen ist Verlass." Details erfährt Stemmer gar nicht. Ein Berater fasse alle sechs Gespräche zusammen: Die Referenzen sind positiv. Oder negativ - wie bei Lena. Mehr sagte man auch ihr beim Rauswurf nicht. Adieu, bonne chance.

Ich war gut vorbereitet auf den Anruf. Per Stellenanzeige gesucht wurde ein "Regulatory Affairs Officer". Die Aufgabenbeschreibung las sich so spannend wie ein Beipackzettel für Hustensaft: "selbständige Durchführung von regulatorischen Projekten", dazu "kontinuierliches Update von Registrierungsunterlagen" und "Unterstützung bei allgemeinen Pharmakovigilanzaufgaben". Es gehe um die Zulassung von Medikamenten, hatte Lena gesagt. Als verhandelbares Jahresbruttogehalt wurden 37.800 Euro genannt - wenig für eine studierte Pharmazeutin. Aber Lena wollte nicht mehr Apothekerin sein. Sie wollte lieber im Büro klinische Studien auswerten und Beipackzettel schreiben. Hauptsache, sie würde nicht mehr von hypochondrischen Omas angeschnauzt und von Schwerkranken angehustet, müsste keine Junkies mehr abwimmeln oder Nachtwachen halten. Im Anschreiben formulierte sie das eleganter.

Was findet ein Personalberater normal?

Was die Personalberater über Servier-Stellenkandidaten wissen wollen, erfuhr Lena bei der Einarbeitung von ihrer Vorgängerin. Deren Freunde waren gefragt worden, ob die Bewerberin politisch aktiv sei, welche Beziehung sie zu ihren Eltern habe, ob sie Piercings oder Tattoos trage, ob sie gern feiere. "Ich verlasse mich voll auf dich und dein Improvisationstalent", mailte mir Lena. "Du kannst nichts falsch machen." Das behauptet auch Horst Stemmer: "Man sollte dieses Referenzverfahren nicht mystifizieren. Wenn jemand ein normales Leben führt, wird es keine Konflikte geben." Ich finde Lena ziemlich normal. Aber was findet ein Personalberater normal?

Seinen Namen hatte ich gegoogelt. 9000 Treffer. Ein Professor, ein Anwalt, ein Ingenieur. Kein Personalberater. Auf die Frage, ob er keine Homepage habe, sagte er mir später: "Das abe isch nisch nötisch." Auf meinem Handy eine Nachricht an Lena...

Das Telefonat - pünktlich um 15 Uhr klingelt mein Handy. Französische Vorwahl, eine Männerstimme mit starkem Akzent: "Ich kenne Lena Simons nicht und werde sie auch nie kennenlernen. Ich möchte mir eine unabhängige Meinung bilden." Aha. Möchte er nicht lieber auf dem Festnetz anrufen? Ja, gern. Noch während ich die Nummer nenne, überlegt er sich's anders. Er habe wenig Zeit und würde lieber gleich anfangen:

Woher kennen Sie Lena Simons?

Lena und ich trafen uns an der Uni Wien als Austauschstudentinnen mit Erasmus-Stipendium. Lena blieb und machte dort ihren Abschluss. Ich ging nach Washington, Mainz, wieder nach Wien, dann nach Berlin. Dem Personalberater sage ich, wie bemerkenswert ich es finde, dass wir unsere Freundschaft über alle Jahre und Ortswechsel hinweg erhalten haben.

Wie würden Sie Ihre Freundschaft beschreiben?

Ich sage, auf Lena könne ich mich voll verlassen und jederzeit mit ihrer Unterstützung rechnen. Und um noch einen Pluspunkt meiner Liste abzuarbeiten: Wir hätten viele gemeinsame Interessen und beide in Afrika gearbeitet, Lena für "Apotheker ohne Grenzen" in Kenia. Keine Reaktion. Pause.

Was, würden Sie sagen, sind die Stärken von Lena Simons?

So eine platte Frage, im Ernst? Ich beschreibe sie als zuverlässig und schlau, ehrgeizig und leistungsorientiert, dazu als guten Teamplayer. Im Studium habe sie viel mehr gearbeitet als ich.

Warum will sie nicht mehr in der Apotheke arbeiten?

Oha, heikel. Ich versuche es mit den üblichen Floskeln, neue Herausforderungen und so. Das überzeugt mich selbst nicht, also lege ich nach: "Die Arbeit in der Apotheke hat ihr immer viel Spaß gemacht. Ich bewundere, mit welcher Geduld sie sich um die Kunden gekümmert hat, kann aber verstehen, dass sie jetzt Lust auf etwas Neues hat. Die Nachtdienste waren auch nicht ohne. Ihre Apotheke wurde mehrmals nachts von Heroinsüchtigen überfallen." Falls der Mann beeindruckt war, konnte er es gut verbergen.

Möchten Sie noch etwas sagen?

Wie jetzt, schon vorbei? Ich sage, Lena sei mit Sicherheit eine zuverlässige und kompetente Mitarbeiterin. "Ich würde sie sofort einstellen." Jetzt lacht er zum ersten Mal. Freundlich, nicht hämisch. Ist doch prima gelaufen, denke ich.

Nur sehr selten fielen die Referenzprüfungen negativ aus, sagt Horst Stemmer. "Wir behaupten nicht, dass unser Auswahlverfahren der Weisheit letzter Schluss ist." Servier habe schon Bewerber eingestellt, die am Ende doch nicht zur Firma passten. Und wahrscheinlich seien auch Kandidaten zu Unrecht ausgefiltert worden. Aber die Methode habe sich bewährt: 21 Prozent der Mitarbeiter seien bereits länger als zehn Jahre in der Firma, offene Führungspositionen könne man zu 70 Prozent aus den eigenen Reihen besetzen.

Freunde aushorchen lohnt sich also? Bewerbungsberater Jürgen Hesse findet schon den Verdacht "schrecklich", dass die eigenen Freunde einen um den Job gebracht haben - "da muss man ja paranoid werden", sagte er im SPIEGEL-JOB-Interview. Und Tiemo Kracht, Chef-Personalberater von Kienbaum, meint. "Diese Art von Referenz hat wenig Aussagekraft." Freunde kennen weder das Anforderungsprofil noch die Entscheidungskriterien - "was soll man denn als Referenzgeber erzählen?" Als "voyeuristisch" und "übergriffig" bezeichnet Kracht den Blick in private Lebensräume: "Das lehne ich strikt ab."

Umstandslos vor die Tür gesetzt

Wenn Kracht, seit 19 Jahren im Bewerberprüfgeschäft, Referenzen checkt, telefoniert er mit früheren Arbeitgebern oder langjährigen Geschäftspartnern der Bewerber. Die Ergebnisse fasst er zu einem Bericht zusammen. Nur Top oder Flop, das reiche nicht; auch vermeintlich negative Aussagen könnten je nach Stelle positiv sein: "Wenn jemand für einen Restrukturierungsprozess gesucht wird, kann der autoritäre Kandidat genau der Richtige sein." Wichtiger als Freunde sei für Personaler ohnehin eine ganz andere Referenz: das Internet. Wer dort sein Innerstes nach außen kehre, rutsche auf der Auswahlliste nach hinten. "Googleability" nennt Kracht diesen Faktor - der ebenfalls die Privatsphäre berühren kann.

Für Lena endete die Umfeld-Durchleuchtung übel. Ihre Nachricht neun Tage nach dem Telefonat:

Ein Scherz? Kein Scherz. Umstandslos setzte man sie vor die Tür. Noch am Morgen hatte Lena bei einer Schulung mit ihrem Team einen Gutschein für den Eisladen nebenan gewonnen. Lediglich wegen einer Unterschrift ging sie ins Zimmer ihres Vorgesetzten. "Nehmen Sie bitte Platz, wir müssen etwas besprechen", sagte der Chef. "Ihre Referenzen sind negativ." Das war's. Sofortiges Ende des Arbeitsverhältnisses in der Probezeit. Eine Kollegin fragte noch, was nun mit dem Eis sei. Lena packte ihre Sachen und rannte aus dem Büro.

Lag's an mir? Erfahren werden wir es nie. Der französische Personalberater konnte oder wollte sich später auf Nachfrage nicht mehr erinnern; Servier Austria wollte sich aus datenschutzrechtlichen Gründen zum konkreten Fall nicht äußern. Generell erklärte die Firma, die privaten und beruflichen Referenzen ergäben stets ein positives oder negatives Gesamtergebnis. Auch dies sei aber nie das allein ausschlaggebende, sondern nur eines von mehreren Kriterien für die Mitarbeiterauswahl, über die letztlich die lokale Niederlassung entscheide.

Im Moment des Rauswurfs hilft eigentlich nur eines: Man ruft eine gute Freundin an und lässt sich trösten. Aber was, wenn die Freundin mitschuldig ist am Schlamassel? Man schickt eine SMS. "Meine Referenzen waren negativ." Ich hasse diesen Satz.

Foto: Jeannette Corbeau

Autorin Verena Töpper, 31, arbeitet im KarriereSPIEGEL-Ressort von SPIEGEL ONLINE. Lena hat inzwischen einen anderen Job gefunden. Die Freundschaft der beiden litt nur vorübergehend.

Aus SPIEGEL JOB 1/2014

Der Text ist aus dem Magazin SPIEGEL JOB mit Beiträgen aus der Berufswelt - für Einsteiger, Aufsteiger, Aussteiger. Weitere Themen:

Prima, Ballerina: Der harte Alltag einer Spitzentänzerin / Ausstiegsträume: "Das mach ich eh nur fünf Jahre" / Branchenreport Energie: Zeit, dass sich was dreht.

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