Büroklammern verbiegen "Es ist ein barbarischer Zerstörungsakt"

So sieht das Ding aus, wenn man wieder Ärger mit Kollegen hatte
Foto: Kein&Aber
Mario Gmür (Jahrgang 1945) ist Psychiater. Einer seiner Arbeitsschwerpunkte ist das Leben in einer medialen Öffentlichkeit. Er lebt und arbeitet in Zürich.
KarriereSPIEGEL: Herr Gmür, ich habe zur Vorbereitung ein paar Büroklammern verbogen. Gar nicht so leicht. Geben Sie's zu, Sie haben die Dinger mit einer Zange selbst bearbeitet.
Gmür: Bestimmt nicht! Ich finde das auch ziemlich anstrengend. Aber ich habe eben Patientinnen und Patienten, die sehr kräftig sind, Monteure, Handwerker. Während der Sitzungen greifen sie sich Büroklammern, die auf dem Tisch liegen. Sie haben einen Überschuss an angestauten Aggressionen - und finden so ein Ventil, um sie zu entladen. Es ist ein barbarischer Zerstörungsakt, einen Gegenstand, der nur für etwas Nützliches vorgesehen ist, derart seiner Funktion zu berauben.
KarriereSPIEGEL: Man hätte die Dinger auch einfach wegwerfen können, sie waren ja unbrauchbar.
Gmür: Ja, aber es ist eine despektierliche Situation für eine Klammer, im Papierkorb zu landen. Davor habe ich schon viele hier in meiner Praxis bewahrt.
KarriereSPIEGEL: Wie groß ist denn Ihre Reserve?
Gmür: Ich habe eine Schachtel mit etwa hundert Stück auf meinem Tisch, auch farbige sind dabei. Die brauche ich zum Systematisieren bei der Lektüre von Büchern und Akten. So papierlos, wie es heißt, ist unsere Welt übrigens nicht, wir drucken ja alles aus. Eigentlich will ich eine Büroklammer-Emanzipation auslösen. Sie verdient eine Tellerwäscherkarriere!
KarriereSPIEGEL: Wie bitte?
Gmür: Ich will die Klammer aus ihrem schmählichen, verknechteten Dasein als reine Hilfskraft im grauen Alltag erlösen und auf eine ästhetische Ebene holen. Sie wirkt harmlos, und doch können aus ihr so schöne Formen entstehen! Denn es ist doch so: Sie ist der Bürosklave, der nur darauf wartet, gebraucht zu werden - und dann in einem ganz intimen Verhältnis zum Dokument existiert, dessen Inhalt ihr aber verborgen bleibt.
KarriereSPIEGEL: Na, jetzt machen Sie mal halblang. Immerhin gibt es die Büroklammer seit Ende des 19. Jahrhunderts - passte ja zur aufkommenden Angestelltenkultur damals.
Gmür: Absolut. Sie spiegelt diese Bürowelt: ein Massenartikel, total austauschbar und entindividualisiert. Erst durchs Verformen wird sie einzigartig, ein Kunstwerk.
- Und welche Büroklammer sind Sie? Blättern Sie sich hier durch ein paar Beispiele aus Gmürs Test:
KarriereSPIEGEL: Apropos Menschen im Büro: Sie haben gerade ein Buch mit vielen Fotos dieser verformten Büroklammern samt Psychotest geschrieben. Man sucht welche aus, am Schluss gibt's eine Auswertung des Persönlichkeitstyps. Wie hilft mir das in der Arbeitswelt?
Gmür: Es geht dabei nicht darum, einzelne Klammern zu interpretieren - das wäre unseriös und reine Küchenpsychologie. Das Ganze basiert auf dem Prinzip der Affinität: Welche Bilder sprechen den Betrachter an? Was assoziiert er damit? Das liefert Auskunft darüber, wie jemand tickt - und das spielt für die Karriereplanung eine wichtige Rolle. Ein bisschen wie beim Rohrschachtest oder der Grafologie. Im Prinzip hätte man für einen solchen Test auch Fotos von Kuhfladen oder Mikroskop-Aufnahmen nehmen können.
KarriereSPIEGEL: Rohrschachtest und Grafologie: beides sehr umstritten. Gerade wenn die Personalabteilung damit ankommt.
Gmür: Bei Einstellungsgesprächen geht das natürlich nur mit Einverständnis des Bewerbers!
KarriereSPIEGEL: Naja, aber man will den Job ja haben ...
Gmür: Das stimmt, aber jede Nötigung verbietet sich von vornherein, das ist ein ethisches Problem. Außerdem verfälscht ein Test unter Zwang das Ergebnis. Aber meinen Büroklammer-Test kann jeder für sich allein machen. Er ist ein Spielzeug, der eher der Selbsterkundung dient als der Prüfung von Kandidaten oder Angestellten.
KarriereSPIEGEL: Inwiefern?
Gmür: Er zeigt dir deinen Charakter: ehrgeizig oder bescheiden, dominant oder unterwürfig, altruistisch oder egoistisch, Einzelgänger oder Teamplayer, Macher oder Kommunikator, ambivalent oder entschlossen? Und die Büroklammer selbst hat einen enormen Symbolcharakter: Schauen Sie sich den großen und den kleinen Schenkel an! Das versinnbildlicht, dass das Große ohne das Kleine nichts wert ist, nur zusammen sind sie nützlich.
KarriereSPIEGEL: Jetzt klingen Sie ganz schön verliebt.
Gmür: Ach, man könnte ein ganzes Buch über die Kultur der Büroklammer schreiben! Über den weltweiten Siegeszug dieses Gegenstands, der an Trivialität nicht zu überbieten ist. Sie ist der Grundpfeiler des Ordnungsprinzips, hält Papier zusammen. Sie ist der Feind des Windes!

Das Interview führte KarriereSPIEGEL-Autorin Anne Haeming (Jahrgang 1978), freie Journalistin in Berlin.