Transparente Firma "Wir veröffentlichen alle Gehälter im Internet"

Leo Widrich (Jahrgang 1990) ist in Österreich aufgewachsen. Sein Wirtschaftsstudium an der britischen Warwick Business School brach er nach zwei Jahren ab und gründete mit seinem Uni-Mentor Joel Gascoigne ein Start-up im Silicon Valley. Buffer funktioniert wie eine Zeitschaltuhr für Social-Media-Beiträge. Mehr als zwei Millionen Kunden nutzen den Dienst, der Umsatz der Firma lag 2015 bei zehn Millionen Dollar. Die rund 100 Mitarbeiter arbeiten von zu Hause aus, ein Firmenbüro gibt es nicht. Widrich pendelt zwischen Wien und San Diego.
SPIEGEL ONLINE: Herr Widrich, auf Ihrer Firmenseite steht, dass Sie 185.000 Dollar im Jahr verdienen. Wie oft werden Sie darauf angesprochen?
Leo Widrich: Nicht so oft, wie man denken würde. Wir veröffentlichen die Gehälter von allen Mitarbeitern, das nimmt dem ganzen Thema irgendwie den Wind aus den Segeln. Und genau das war unser Ziel. Bei uns weiß jeder, woran er ist. Transparenz ist unser Leitmotiv.
SPIEGEL ONLINE: Und was sagen die Mitarbeiter, die ganz unten auf der Gehaltsliste stehen?
Widrich: Ganz unten zu stehen fühlt sich natürlich nie gut an, aber wer bei uns arbeitet, weiß, warum er wie viel verdient. Das Gehalt berechnen wir mit einer Formel, in die Berufserfahrung, Art des Jobs und Arbeitsort einfließen. Einem Programmierer zahlen wir zum Beispiel in Kapstadt ein Grundgehalt von rund 61.000 Dollar im Jahr, in Paris 73.000 Dollar und in San Francisco 112.000 Dollar. Je nach Berufserfahrung multiplizieren wir die Summe mit 1,1 bis 1,3. Und als Loyalitätsbonus gibt es jedes Jahr eine Gehaltserhöhung von fünf Prozent. So kann sich jeder sein Einkommen selbst ausrechnen.
SPIEGEL ONLINE: Und das ist auch nicht verhandelbar?
Widrich: Verhandelbar ist nur die Einstufung der Berufserfahrung. Wir unterscheiden da zwischen vier Stufen, und wer wo steht, wird regelmäßig mit den Teams besprochen.
SPIEGEL ONLINE: Sie werben damit, dass bei Ihnen jeder arbeiten kann, wo er will. Aber wenn ein Mitarbeiter von Kalifornien nach Thailand zieht, bekommt er plötzlich weniger Geld?
Widrich: Das Gehalt kann sich bei einem Umzug verringern, ja. In Thailand sind die Lebenshaltungskosten deutlich niedriger als in Kalifornien, wo ein WG-Zimmer schon mehr als 1000 Dollar Miete kostet. Es wäre deshalb unfair, allen das Gleiche zu zahlen. Wir wollen niemanden ausbeuten, im Gegenteil: Unser Ziel ist es, dass unsere Mitarbeiter einen vergleichbaren, guten Lebensstandard haben, egal, wo sie wohnen.
SPIEGEL ONLINE: Viele digitale Nomaden leben mit dem Gehalt aus der Heimat fürstlich in der Südsee. Ihnen könnte es doch auch egal sein, wo Ihre Mitarbeiter arbeiten - Sie bieten Ihnen schließlich kein Büro an.
Widrich: Ich finde unsere Formel sehr fair, aber natürlich kann man darüber diskutieren. Das ist auch das Tolle an der Transparenz: Um mitzureden, braucht man noch nicht mal für uns zu arbeiten. Bis vor Kurzem haben wir beim Gehalt auch den Familienstand berücksichtigt. Mitarbeiter mit Kindern haben für denselben Job mehr Geld bekommen. Innerhalb der Firma gab es darüber gar keine Diskussion, aber von außen kam auf einmal viel Kritik. Nach reiflicher Überlegung haben wir den Familienfaktor aus der Gehaltsformel entfernt, stattdessen gibt es jetzt eine Kinderbeihilfe. Für uns ist unsere Firma auch ein soziales Experiment.
SPIEGEL ONLINE: Und Ihre Mitarbeiter sind die Versuchskaninchen?
Widrich: Wenn man neue Wege gehen will, ist das immer mit einem Risiko verbunden. Aber die Frage, wie wir in Zukunft arbeiten wollen, kann man nicht mit Routine beantworten. Fehler gehören dazu. Wir hatten zum Beispiel die Idee, ohne Manager zu arbeiten. Jeder organisiert seine Arbeit so, wie er möchte, ohne dass ihm jemand sagt, was zu tun ist. Leider hat das in der Praxis gar nicht funktioniert, und die Firma ist im Chaos versunken. Die Leute haben sich nach jemandem gesehnt, der ihnen Halt gibt und sie fördert. Nach sechs Monaten haben wir die Führungsposten deshalb wieder eingeführt.
SPIEGEL ONLINE: Sie haben die Manager erst degradiert und dann wieder befördert?
Widrich: Ja, das war nicht einfach. Wir haben viel diskutiert, und einige Mitarbeiter waren auch sehr unzufrieden. Aber wir stehen zu unseren Fehlern. Als Firmengründer darf man sich selbst nicht zu ernst nehmen.
SPIEGEL ONLINE: Haben Sie keine Angst, dass Ihnen die Versuchskaninchen ausgehen?
Widrich: Wir kriegen jeden Monat 1500 bis 2000 Bewerbungen. Und von vielen bekommen wir die Rückmeldung, dass sie zu uns wollen, weil sie das Gefühl haben, über unsere Firma mehr zu wissen als über ihren derzeitigen Arbeitgeber. Bei uns gibt es keine Geheimnisse. Die gesamte Belegschaft bekommt sogar jede E-Mail, die intern versendet wird, in Kopie.
SPIEGEL ONLINE: Aber wer will denn so was?
Widrich: Wir erwarten nicht, dass jeder alles liest. Die Nachrichten landen in einem eigenen Ordner, man kann sie also auch ignorieren. Aber sie tragen zur Transparenz im Unternehmen bei und erübrigen zum Beispiel umständliche Übergaben. Ich selbst lese viele dieser E-Mails und habe so leichter den Überblick.
SPIEGEL ONLINE: Können die Mitarbeiter auch lesen, was Sie Ihrem Mitgründer Joel Gascoigne schreiben?
Widrich: Ja, klar. Es gibt natürlich noch die Möglichkeit, eine E-Mail nur an eine Person zu schicken, aber jede Nachricht, die die Arbeit betrifft, sollte das Team im CC haben. Und daran halten sich auch alle.