Carpe noctem Freunde der Nacht

Wenn nur noch Nachtschwärmer unterwegs sind: Nacht, Nebel und eine große Geste
Foto: CorbisStockfinstere Nacht, alles still. Irgendjemand muss ja das Leichenhaus bewachen. Plötzlich ein Geräusch - war da was? Hat sich etwas bewegt? Und warum ist die Tür nur angelehnt?
Die Klischees, die Hollywood zum Begriff "Nachtschicht" bereithält, kann man ganz leicht vor dem inneren Auge abspulen - es reichen ein paar Worte, um das Kopfkino in Gang zu bringen. Aber die Sache hat einen Haken: Diese Nachtschicht-Phantasien sind ganz schön albern.
Die Realität ist nicht annähernd so blutrünstig. Wer nachts arbeitet, hat, flüchtig betrachtet, einen ganz normalen Job. Nur, dass die Uhrzeit nicht dem typischen Biorhythmus der meisten Menschen entspricht.
Etwas besonderes sind die meisten Nachtjobs trotzdem, ganz ohne Horroreffekte. Davon berichteten sechs Nachtschaffende vor ein paar Tagen auf KarriereSPIEGEL. Und hier nun schildert ein weiteres halbes Dutzend, was sie an ihren Spätschichten lieben oder hassen, was sie stolz macht und was sie schlaucht.
Sie können Dinge sehen, die bei Tag unsichtbar sind - wie eine Astronomin. Sie haben öffentliche Plätze, an denen sonst das Leben pulsiert, ganz für sich allein - wie eine Reinigungskraft am Flughafen. Sie können an Süßigkeiten naschen, wenn sie am frischesten sind - wie ein Konditorlehrling.
Die Astronomin: "Wie eine Insel im Alltag"

Astronomin von Essen: "Keine Wolken - kaum Schlaf"
Foto: privatCarolina von Essen, 29, Astronomie-Doktorandin
"In den vergangenen zwei Wochen habe ich kaum geschlafen. Die Nächte waren für Hamburger Verhältnisse ungewöhnlich klar. Keine Wolken! Das musste ich ausnutzen.
Seit Oktober arbeite ich an der Hamburger Sternwarte, ich habe ein Stipendium, um für meine Doktorarbeit über Exoplaneten zu forschen. Die Sternwarte hat ein Teleskop mit 1,2 Metern Durchmesser - der Wahnsinn. Bei mir zu Hause in Argentinien hatte ich das nicht zur Verfügung. Und ich brauche so eines, um erkennen zu können, wie die Exoplaneten vor den Sternen ihres Sternensystems vorbeiziehen.
Damit ich weiß, ob sich die Nachtschicht lohnt, habe ich die Wettervorhersage immer im Blick. Das muss ich oft kurzfristig entscheiden. Aber dank der Software, die die Kollegen hier an der Universität entwickelt haben, kann ich das Teleskop auch von zu Hause aus steuern. Ich kann also nebenher essen, stricken, Geschirr spülen - und zu bestimmten Uhrzeiten muss ich Fotos machen. In Argentinien war es anstrengender; da saßen wir nachts immer zu zweit neben dem Teleskop und tranken literweise Matetee, um nicht einzuschlafen.
"Drei Stunden Schlaf reichen mir"
Meine Freunde sagen, ich sei eine Eule. Nachts zu arbeiten finde ich einfach wunderbar. Es ist so schön ruhig, wie eine Insel im Alltag. Das Universum zu observieren, beruhigt ungemein: Man weiß, man beobachtet Großes, man schaut immer auf die Vergangenheit. Ich kann so super runterkommen. Andere lesen vielleicht ein Buch - ich schaue mir den Nachthimmel an. Manchmal beobachte ich zwischendurch eine winzige Galaxie, das ist wirklich das Allerschönste.
Ich forsche nun seit acht Jahren als Astronomin, ich bin es gewohnt, nachts wach zu sein. Mein Tagesrhythmus hat sich in der Zeit total geändert, ich schlafe weniger, drei Stunden reichen mir. Zwar bin ich immer ein wenig müde, aber das macht mir nichts aus. Das gehört bei Astronomen eben manchmal dazu.
Mein Traum wäre ein eigenes Superteleskop. Dann könnte ich auch in Argentinien jede Nacht in den Himmel schauen."
hae
Die Polizistin: "Mit 30 bekam ich plötzlich Migräne-Anfälle"

Anonyme Polizistin: "Ich habe an keinem Termin der Woche sicher frei"
Foto: Jens Ressing/ picture-alliance/ dpaAnonyme Polizistin in Hamburg, 41
"Als Polizeibeamtin habe ich seit 19 Jahren Nachtschichten. Jeder, der den Beruf ergreift, ist sich bewusst, dass man nachts arbeiten muss. Bis ich Ende 20 war, hatte ich damit auch kein Problem: In dem Alter habe ich die wechselnden Früh-, Spät- und Nachtschichten noch gut weggesteckt. Aber mit Anfang 30 tauchten die ersten Schwierigkeiten auf. Ich hatte Einschlafprobleme und plötzlich Migräne-Anfälle. Wenn es draußen hell ist, kann ich schlecht schlafen. Bei der Arbeit bin ich dann müde und bekomme leicht Kopfschmerzen.
Ich kann mich nur selten mit Freunden treffen, weil meine Dienstzeiten das kaum erlauben. An freien Tagen und nach der Arbeit versuche ich, den fehlenden Schlaf nachzuholen. Wenn meine Freunde und Bekannten Zeit haben, arbeite oder schlafe ich meistens. Deshalb musste ich mein Sozialleben radikal runterfahren. Ich bin alleinstehend und habe keine Kinder. Es gibt wohl nur wenige Männer, die mit meinen Arbeitszeiten klarkommen würden.
Zum Ausgleich gehe ich ins Fitnessstudio. Mannschaftssport kommt für mich nicht in Frage, weil ich an keinem Termin in der Woche sicher frei habe. Das belastet mich. Aber so ist der Job. Nachtschichten sind selbstverständlich, und es wird von allen Kollegen erwartet, dass man damit gut umgehen kann. Deshalb möchte ich nicht, dass mein Name genannt wird."
ati
Der Konditor: "Ich mache das aus Liebe zum Süßzeug"

Konditorlehrling Onur: "Meine Freunde lachen über meinen anstrengenden Beruf"
Foto: Mercedes LauensteinOnur, 18, Konditorlehrling in München
"Montag bis Freitag stehe ich jeden Morgen um halb fünf in der Backstube. Am Samstag schon um vier. Das ist hart, und ich mag es nicht besonders, so früh aufzustehen. Aber ich nehme es in Kauf - Zuckerkram, Kuchen und so, das habe ich schon immer geliebt.
Mir war schon während der Schulzeit völlig klar, dass ich eines Tages als Konditor arbeiten muss. Immerhin sagt man, dass man als Konditor mehr vom Leben hat. Man schläft nicht nur zu anderen Zeiten, sondern auch einfach weniger.
Ich lasse es mir nämlich nicht nehmen, mit Freunden auszugehen. Da kommt es oft vor, dass ich nur drei Stunden schlafe. Und wenn ich am Nachmittag mit der Arbeit fertig bin, kann ich auch nicht gleich wieder ins Bett gehen - das würde mich total deprimieren. Schließlich will ich was vom Tag haben. Wie meine Freunde. Für die brauche ich ja auch Zeit.
"Wenn ich morgens in der Backstube ankomme, ist da schon Licht"
Sie lachen mich oft aus, dass ich mir so einen anstrengenden Beruf ausgesucht habe und fragen, wie ich das überhaupt aushalte. Aber was soll ich machen? Ich mag den Beruf. Und meine Begeisterung dafür gibt mir die nötige Energie. Ich bin halt jetzt ins Arbeitsleben eingestiegen, na und? Arbeit ist immer anstrengend. So ist das im Leben.
Was hilft ist, dass ich nicht alleine bin. Wenn ich morgens in die Backstube komme, ist da schon Licht. Meine Kollegen sind da, und wir sind ein gutes Team. Wir haben uns alle an den blöden Rhythmus gewöhnt. Aus Liebe zum Süßzeug."
mlau
Der Flughafenreiniger: "Immer noch besser als beim griechischen Militär"

Reinigungsmann Michael: "Keiner redet. Und wenn, dann nur das Nötigste"
Foto: Mercedes LauensteinMichael, 40, Reinigungskraft am Münchner Flughafen
"Seit 17 Jahren fahre ich jeden Abend um zehn Uhr mit der S-Bahn an den Flughafen. Mit all den anderen Reinigungskräften putze ich nachts die menschenleeren Terminals. Mal sechs, mal sieben Tage am Stück. Danach habe ich drei Tage frei, bis es wieder von vorne losgeht.
Ich bin vor 20 Jahren aus Griechenland hierher gekommen, dort war ich beim Militär angestellt. Ich konnte den Job nicht leiden, noch dazu war er schlecht bezahlt. Also bin ich mit meiner Freundin nach Deutschland gekommen. Hier gibt es mehr Arbeitsplätze. Und bessere Arbeitsbedingungen. Alle sind netter, der Umgang miteinander ist nicht so harsch, nicht so rabiat wie in Griechenland. In Deutschland hat man, glaube ich, mehr Spaß im Leben.
Nachts zu arbeiten ist natürlich trotzdem nicht toll. Aber solange ich keinen besser bezahlten Job finde, gebe ich mich damit zufrieden. Solange einer das Geld nach Hause bringt, ist alles gut. So sehen wir das, meine Familie und ich. Von ihnen kritisiert niemand meinen Job, und es bemitleidet mich auch niemand. Mein zehnjähriger Sohn findet es normal, dass sein Papa nachts arbeitet.
"Ich kann den Flughafen besser leiden, wenn er ruhig und leer ist"
Es ist manchmal sehr schwierig, am Tag zu schlafen. Aber es geht schon, ich habe mich daran gewöhnt. Hier beim Putzen reden wir nicht viel, jeder erledigt seine Pflicht, keiner meckert. Es ist eine sehr stille Arbeit, der Flughafen ist zwischen ein Uhr nachts und fünf Uhr morgens völlig leblos. Das Einzige, was sich bewegt, sind die Reinigungsmaschinen unter unserem Hintern. Wir fahren unsere Bahnen, hin und her, immer wieder. Keiner redet. Und wenn, dann nur das Nötigste.
Ab und zu sieht man mal ein liegengebliebenen Passagier auf einer Bank, ganz in sich zusammengerollt. Wenn wir mit den Maschinen vorbeifahren, dreht er sich einmal um und schläft weiter. Aber das ist auch schon alles, mehr passiert hier nicht.
Morgens um sechs gehen die ersten Flüge, dann füllen sich die Gänge wieder mit Menschen. Ich mag es, mich dann in die S-Bahn Richtung Zuhause, Richtung Bett, setzen zu können. Ich kann den Flughafen besser leiden, wenn er ruhig und leer ist."
mlau
Der Tankwart: "Von den Sonnenaufgängen bekomme ich nichts mit"

Kassierer Merkle: "Nie hätte ich gedacht, dass das so viel Spaß machen würde"
Foto: Anne HaemingPeter Merkle, 47, Kassierer an einer 24-Stunden-Tankstelle
"Seit einem Jahr ist hier nachts alles anders. Seither darf in Baden-Württemberg ab zehn Uhr abends kein Alkohol mehr verkauft werden. Früher war am Wochenende mehr los als unter der Woche tagsüber, da hatten wir in den beiden Nächten 300, 400 Kunden - jetzt sind es manchmal nur zehn pro Nacht. Die wenigsten davon tanken übrigens. Die kaufen Zigaretten, vielleicht mal ein Getränk. Aber wer Alkohol will, hat bei uns keine Chance.
Zumindest haben wir jetzt hier nicht mehr die ganzen Betrunkenen, die Jugendlichen, die sich vor der Tankstelle treffen, ihre Partys feiern und anfangen, sich zu prügeln. Da musste ich früher immer wieder die Polizei anrufen. Die kommt übrigens sowieso regelmäßig nachts hier vorbei, genauso wie Taxifahrer: Sie wissen, dass wir Kaffee haben und immer frisch gebackene Brötchen.
Ab morgens um zwei Uhr werden die ersten Zeitungen geliefert, ich wische den Boden, räume neue Ware in die Regale - tagsüber ist dafür gar keine Zeit. Und um fünf Uhr fahren die ersten Stammkunden vor, auf ihrem Weg zur Arbeit.
Ich finde die Nachtschicht viel besser
Unsere Tankstelle liegt direkt an der B3 - wer hier nachts vorbeikommt, ist in der Regel unterwegs zu einer der Discos in Karlsruhe oder Bruchsal, wir befinden uns direkt dazwischen am Rande einer größeren Ortschaft.
In warmen, trockenen Sommernächten ist am meisten los. Im Winter ist es hart: Da ist es dunkel, wenn meine Schicht um Punkt Mitternacht anfängt und dunkel, wenn ich um acht Uhr wieder aufhöre. Aber von den Sonnenaufgängen bekomme ich hier sowieso nie etwas mit, die Tankstelle ist schließlich komplett beleuchtet.
Ich mache das jetzt seit acht Jahren. Nie hätte ich gedacht, dass mir das so viel Spaß machen würde. Und ehrlich: Ich finde die Nachtschicht viel besser als die anderen Schichten. Wenn meine Frau nachmittags Feierabend hat und mein elfjähriger Sohn aus der Schule kommt, bin ich längst wieder wach. So haben wir viel mehr Zeit miteinander als andere Familien."
hae
Die Schlafwagenschaffnerin: "Bloß keinen Kaffee!"

Schlafwagenschaffnerin (Symbolbild): "Um wach zu werden, reicht mir kaltes Wasser"
Foto: Deutsche BahnKerstin Ruppersberg, 46, Schlafwagenbetreuerin
"Morgens, wenn meine Schicht endet, bin ich oft in Italien. Ich fahre jetzt seit zehn Jahren als Schlafwagenbetreuerin quer durch Europa, offiziell heißt das 'City Stewardess im Nachtverkehr', so steht es in meinem Vertrag. Übermorgen bin ich wieder unterwegs, mit einem Autozug nach Verona, sonst arbeite ich auch regelmäßig auf Strecken nach Bozen, Zürich oder Alessandria.
Ehrlich: Ich möchte das nicht mehr missen. Es ist aufregend, so viele andere Städte kennenzulernen, es macht Spaß, regelmäßig Englisch oder Italienisch zu sprechen - und die Gäste zu betreuen. Die sind in der Regel unterwegs in den Urlaub und deshalb total entspannt und gut gelaunt, wenn sie abends zu uns in den Zug steigen. Vor dem Schlafengehen bringe ich ihnen noch einen Tee oder ein Glas Wein, ab elf, halb zwölf ist offiziell Ruhezeit. Auch meine. Bis vier Uhr habe ich Pause, dann lege ich mich hin und schlafe.
Es ist aufwendig, sein Leben so zu organisieren
Um wach zu werden, reicht mir kaltes Wasser. Und dann brauche ich einen warmen Pfefferminztee. Bloß keinen Kaffee! Der ist Gift für den Magen. Ganz klar: Für Morgenmuffel wäre der Job nichts. Ich muss schließlich gut gelaunt sein, wenn ich morgens meine Gäste wecke und alles fürs Frühstück fertig mache.
Nach der Schicht geht unser Zugteam erst einmal zusammen Kaffee trinken, dann trennen sich unsere Wege. Ich lege mich ein paar Stunden im Hotel ins Bett und schlafe, dann gehe ich spazieren, etwa auf den Markt, frische Luft schnappen. Das brauche ich nach der Nacht mit Klimaanlage im Zug. Und um sechs Uhr abends sitze ich wieder im Taxi zum Bahnhof, dann beginnt die nächste Schicht.
Ich bin zwei Tage und Nächte weg, komme morgens wieder zu Hause an und bleibe zwei Tage, dann bin ich wieder unterwegs - es ist schon aufwendig, sein Leben so zu organisieren, dass das passt.

Carpe Noctem: Freunde der Nacht
Als ich anfing, war mein Sohn schon 16, das ging. Ich bin sehr froh, dass mein Mann das mitmacht, andere würden damit nicht klarkommen. Das Positive dieser Schichtarbeit ist: Als Familie nutzt man die Zeit, die man zusammen hat, viel intensiver."
hae