Coworking auf dem Land 0 Euro Miete

Altes Ölmühlen-Gelände in Wittenberge, auf dem sich im alten Speicher Co-Working-Arbeitsplätze befinden.
Foto:Westend61/ imago images
Frederik Fischer hat es eilig. Mit schnellen Schritten stapft der 38-Jährige auf das Backsteingebäude zu, hoch ragt es in den aschgrauen Himmel. Fischer tritt über Bauschutt hinweg. Neben der Tür verkündet ein Plakat in geschwungenen Lettern den "Summer of Pioneers", den Sommer der Pioniere. Fischer, so könnte man sagen, ist der Anführer der Exkursion - auch wenn er in seinen weißen Sneakers und dem lässig sitzenden Hemd kaum wie ein Abenteurer aussieht. Heute will Fischer die Expeditionsteilnehmer begrüßen. Sie sind gekommen, um Neues zu wagen - und um zu arbeiten.
Ein halbes Jahr lang wollen die Pioniere, wie sie sich selber nennen, den Traum vieler Großstädter verfolgen und auf dem Land leben. Weit weg von Lärm, Hektik und hohen Stickoxidwerten haben sie sich ein Gemeinschaftsbüro eingerichtet. Der "Coworking Space", wie Fischer das Büro nennt, liegt in einer ehemaligen Ölmühle in Wittenberge, ein Städtchen mitten in Brandenburg. "Es ist ein Abenteuer, wir sorgen für die Gesellschaft", sagt Fischer.

Coworker Frederik Fischer: "Es ist ein Abenteuer, wir sorgen für die Gesellschaft"
Foto: Lisa DuhmDie Pioniere werden nicht nur in Wittenberge arbeiten, sondern auch hier leben. Die Stadt hat für sie ehemalige Arbeiterwohnungen renoviert und möbliert, aus Leerstand wird nun Wohnraum. Die Wohnungen liegen nur wenige Minuten vom Coworking Space entfernt - 150 Euro zahlen die neuen Bewohner für ein Zimmer in einer WG, 300 Euro für eine komplette Wohnung. Für ihren Arbeitsplatz müssen sie gar nichts zahlen, die Pacht für die Besitzer der Ölmühle übernimmt die Stadt.
Fischer öffnet die Tür zum Coworking Space, der auf den ersten Blick auch in Berlin, Frankfurt oder München liegen könnte: Alte Dachbalken geben dem Raum ein rustikales Aussehen, in der Kaffeeküche serviert eine Espressomaschine feine Crema aus frisch gerösteten Bohnen. Die Inneneinrichtung hat ein Unternehmen übernommen, das auf die Ausstattung von Coworking Spaces spezialisiert ist.
20 Coworker kommen heute zum ersten Mal an ihrem neuen Arbeitsplatz zusammen. Sie wollen nicht nur einander kennenlernen, sondern auch die Bewohner des Ortes, der für das nächste halbe Jahr ihre Heimat sein soll. Das, was sie vorhaben, soll nicht nur ihnen selbst nützen - auch Wittenberge soll vom Coworking profitieren, so ihr Plan.
In ganz Deutschland ziehen zurzeit Projekte wie Fischers Menschen an. Sie nennen sich "Raumpioniere Oberlausitz", "ThinkFarm Eberswalde" oder "CoWorkLand". Sie wollen Menschen einen Platz zum Arbeiten geben, die nicht fest an einen Ort gebunden sind. Journalisten, Webdesigner, Illustratoren treffen in den Projekten aufeinander, sie schwärmen von freigesetzter Kreativität und loben Synergien.

Adriana Osanu (links) mit Coworkern: "Berlin ist eine Blase"
Foto: Lisa DuhmDoch es geht um mehr. Die Stadtflüchtigen eint eine Sehnsucht: Sie wollen das entschleunigte Leben finden, hoffen auf einen Neuanfang zwischen Gemüseacker und Digitalarbeit. Und können dabei Regionen helfen, die gemeinhin als abgehängt gelten.
Auch auf Fischers Mitstreiter trifft das zu: Sie alle arbeiten in kreativen Berufen, die wenigsten haben eine Festanstellung - unter ihnen sind ein Hausboot-Berater, eine Journalistin, eine Filmemacherin. Die erste Etage der Wittenberger Ölmühle gehört nun ihnen. Draußen fließt in Sichtweite die Elbe vorbei, an dieser Stelle schmal und sanft, direkt am gegenüberliegenden Flussufer grenzt ein Naturschutzgebiet an.
In einer Ecke des Raumes sitzen Adriana Osanu, Architektin, und Vanessa Sadecky, Journalistin, auf einem antik anmutendem Stoffsofa mit Blumenmuster, die Laptops auf dem Schoß. "Berlin ist eine Blase", sagt Osanu, 33, nach dem Grund für ihren Umzug gefragt. Die Stadt sei ihr zuletzt zu laut, zu schnell, zu wild gewesen. Die Architektin ist gerade erst in Wittenberge angekommen. "Auf dem Weg mit der Bahn hierher habe ich mich gefühlt, als würde ich durch eine Schleuse fahren", sagt Osanu.
Dort turbobeschleunigtes Großstadtleben - hier die grüne Oase.
Doch ganz so einfach ist die Rechnung nicht. Osanus Mitstreiterin Sadecky lebt bereits seit einigen Tagen in Wittenberge und hat wichtige Erkenntnisse gewonnen. Zu Fuß brauche man eine Viertelstunde zum nächsten Supermarkt, das Fitnesscenter liege sogar eine halbe Stunde entfernt. Ein einziges Yogastudio gebe es im Ort, das sei nun gut ausgelastet. Einen Bioökohof habe sie auch schon entdeckt, vielleicht könne man da eine Kooperation aufbauen. Ein anderer Coworker wirft ein, dass man sich zum Mittag gut etwas beim Syrer bestellen könne, "der macht Sachen, die gibt's noch nicht mal in Berlin".
Das Leben in der Provinz reduziert die Ansprüche, doch erst einmal treten Bedürfnisse deutlicher hervor. Osanu und Sadecky sind es gewohnt, am Abend zwischen Kino, Kneipe, Sauna, Theater und Bodyworkout wählen zu können. In Wittenberge gibt es noch nicht mal eine Bar.

Tisch im Coworking Space: Anleitungen für das einfache Leben
Foto: Lisa DuhmDie Kleinstadt liegt auf halber Strecke zwischen Hamburg und Berlin. Der ICE hält hier, wenn man die richtige Verbindung erwischt, ist man in weniger als einer Stunde in der Hauptstadt. "Sonst würde das hier nicht funktionieren", sagt Fischer. Ohne eine schnelle Verbindung zur Großstadt, ihrer echten Welt, wären wohl die wenigsten bereit gewesen, das Abenteuer als Pioniere zu wagen.
Wittenberge ist zumal politisch eine ungewöhnliche Stadt: Bei der Europawahl im Mai errang hier ausgerechnet die SPD das mit Abstand beste Ergebnis. Knapp 26 Prozent holte die Partei - im deutschen Durchschnitt ist Wittenberge eine sozialdemokratische Hochburg, wie Brandenburg überhaupt, wo seit 1990 die SPD dominiert und zurzeit eine rot-rote Landesregierung am Ruder ist. Am 1. September wird ein neuer Landtag gewählt - der AfD wird ein großer Erfolg vorhergesagt.
Doch auch Wittenberge leidet unter den typischen Problemen der Provinz. Seit den Siebzigerjahren ist die Bevölkerung um die Hälfte geschrumpft, heute leben hier um die 18.000 Menschen. Eine Forschergruppe wählte die Stadt einst aus, um an ihr die Probleme Ostdeutschlands zu studieren. Die "Zeit" titelte: "Zum Beispiel Wittenberge, eine kleine Stadt". Jeder im Ort kennt den Artikel.
Die Hoffnung des Bürgermeisters
Die Hoffnung, die Pioniere könnten das Image der Stadt aufbessern, für einen langfristigen Landboom sorgen - man liest sie in den Gesichtern der Besucher, die in den Coworking Space gekommen sind, und man hört sie in den Worten von Bürgermeister Oliver Hermann. "Wenn zehn der Pioniere am Ende der sechs Monate hier in Wittenberge bleiben, das wäre das Allerbeste", sagt Hermann. Aber auch über einen einzigen würde er sich freuen, fügt er dann schnell hinzu.
Auch die Bewohner Wittenberges sind hoffnungsvoll. Da ist die Fraktionsvorsitzende der SPD, eine ältere Dame mit elegantem Halstuch, die wissen will, wie das denn überhaupt funktioniert, diese kreative Digitalarbeit. "Computer sind ja nicht so meins." Sie will mit ihrer Ortsgruppe vorbeikommen, um sich alles ausführlich erklären zu lassen.
Da ist Rentnerin Marlies Kurzmann, die schon immer in Wittenberge lebt, und sich für ihre Stadt "frischen Wind" wünscht. Wittenberge, erklärt sie, sei eine Rentnerstadt - aber doch keine sterbende Stadt, hier könne sich noch etwas bewegen.
Und da ist Frank Wenzel, der in der Innenstadt eine Kaffeerösterei betreibt. "Wenn man an manchen Tagen aus dem Fenster guckt, da kriegt man schon Angst", sagt er. Die Straße vor seiner Rösterei sei dann leer, die Kundschaft bleibe aus. Nach der Wende sei die Stadt in ein Loch gefallen. "Alles blieb stehen." Nun hofft Wenzel, dass sich das ändert. Einen Kunden hat er schon hinzugewonnen - er beliefert den Coworking Space mit Kaffeebohnen.
Als Frederik Fischer das erste Mal per Facebook für sein Projekt warb, war die Resonanz überwältigend. Mehr als 60 Menschen bewarben sich für einen Platz im Coworking Space auf dem Land. Nun sind die 20 auserwählten Pioniere endlich da. Adriana Osanu, die Architektin, sagt: "Mal gucken, wie wir die Stadt auf den Kopf stellen. Oder sie uns".