
Deutsch, türkisch, deukisch Drei Generationen in der Autofabrik
Angst und Zweifel hatte er, aber die Hoffnung auf Geld und Wohlstand war stärker. Und so packte Süleyman Cözmez eines Tages seinen Koffer und stieg in einen Sonderzug von Istanbul nach Köln. Denn wie viele andere Unternehmen suchte dort der Autobauer Ford in den sechziger und siebziger Jahren dringend Mitarbeiter - und fand sie in der Türkei.
Hunderttausende türkische Gastarbeiter kamen damals nach Deutschland, wollten wie Cözmez meist nur ein paar Jahre bleiben. Heute, als Rentner, lebt er immer noch in Köln. Und seine Familie arbeitet inzwischen in dritter Generation bei Ford.
Ursprünglich war Cözmez 1970 ganz allein nach Deutschland gekommen, Frau und Kinder blieben in der Türkei. Bei ihrer Ankunft am Bahnhof seien die Arbeiter herzlich empfangen und von einer Musikkapelle begrüßt worden, erzählt er. Cözmez, damals 27, arbeitete am Fließband und teilte sich zunächst mit vier türkischen Kollegen ein Zimmer in einem Wohnheim. Den Großteil seines Einkommens schickte er an seine Familie.
Max Frisch: "Wir riefen Arbeitskräfte, und es kamen Menschen"
"Die Deutschen waren freundlich und haben uns sehr geholfen. Zum Beispiel beim Einkaufen - anfangs konnte ich mich ja nur mit Händen und Füßen verständigen." Er habe gleich Deutschkurse besucht, sagt der heute 68-Jährige. "Nur wenn man die Sprache spricht, kann man sich in einem fremden Land wohlfühlen." Außerdem gab es einen Anreiz: Wer Deutsch lernte, der bekam etwas mehr Lohn. "Denn die fehlenden Sprachkenntnisse waren ja auch bei der Arbeit ein Problem."
Genau 50 Jahre ist es her, dass Deutschland am 30. Oktober 1961 ein Anwerbeabkommen mit der Türkei schloss. Diese Verträge, die Deutschland zuvor bereits mit Italien, Griechenland und Spanien geschlossen hatte und später noch mit Marokko und Portugal schloss, sind ein Meilenstein der deutschen Wirtschaftsgeschichte. Ins Wirtschaftswunderland, in dem Stahlkocher, Bauarbeiter und Bergleute überall das Fundament für den Aufstieg gelegt hatten, strömten fortan Gastarbeiter. Sie sollten mit anpacken, sollten den steigenden Bedarf an Arbeitskräften decken. Zugesichert wurden ihnen Mindestlohn und Unterkunft, bleiben sollten sie aber maximal zwei Jahre.
Es war von Anfang an ein Missverständnis. Deutschland glaubte, die "Gäste" würden bald in die Heimat zurückgehen. Schon 1964 wurde die Zweijahresbegrenzung im Abkommen aufgegeben - und zwar auf Druck der Arbeitgeber, denen ein ständiger Wechsel der Arbeitnehmer zu aufwendig war. Von Integration sprach damals niemand und wollte sie auch nicht. Max Frisch brachte es bereits 1965 auf eine klare Formel: "Wir riefen Arbeitskräfte, und es kamen Menschen." Damit beschrieb der Schweizer Schriftsteller den Umgang seiner Landsleute mit italienischen Einwanderern; in Deutschland war es ganz ähnlich.
Lesen und schreiben unwichtig, Hauptsache gesund
Bis zum Anwerbestopp 1973 kamen allein aus der Türkei rund 700.000 Menschen in deutsche Unternehmen. In den zwölf Jahren zuvor hatten sich rund 2,7 Millionen Türken um einen Arbeitsplatz im fernen Deutschland beworben, doch nur ein Viertel kam tatsächlich. Ausgewählt wurden sie von einer Außenstelle des deutschen Arbeitsamtes in Istanbul und mussten strengen Kriterien genügen: Sie sollten möglichst Deutsch, Englisch oder Französisch sprechen, außerdem gesund und ledig sein.
"Deutschland suchte Arbeitnehmer für sehr gering qualifizierte Arbeiten", sagt der Paderborner Kulturwissenschaftler, der ein bilaterales Forschungsprojekt zu den türkisch-deutschen Beziehungen leitet. "Die Bewerber wurden in Istanbul medizinisch untersucht, auch die Zähne. Ob sie lesen und schreiben konnten, war überhaupt nicht wichtig."
Die meisten "Gastarbeiter" blieben - und holten ihre Familien nach, ins Einwanderungsland, das jahrzehntelang partout kein Einwanderungsland sein wollte. Heute leben rund drei Millionen Menschen türkischer Abstammung in Deutschland. Vor 30 Jahren waren bei den Kölner Ford-Werken schon mehr als 12.000 Türken beschäftigt. Auf Dauer in Deutschland zu bleiben, hatte Cözmez zunächst nicht geplant. "Ich habe hier gearbeitet, aber meine Gedanken waren in der Türkei", erzählt er. "Ich wollte etwas Geld verdienen, dann zurück nach Hause. Aber Deutschland ist ein schönes Land." Der Lebensstandard sei bis heute um so vieles besser als in seinem ostanatolischen Heimatdorf. Darum holte er 1980 seine Ehefrau und die fünf Kinder nach Köln.
"Behalten will ich beide Länder"
"Für uns begann ein völlig neues Leben", erinnert sich Sohn Mustafa, 47. Alles war anders: Sprache, Schule, die ganze Umgebung. "Das war anfangs sehr schwierig für uns." Nach und nach habe er neue Freunde gefunden, türkische und deutsche. Sein Traum: ein Medizinstudium. Doch stattdessen machte Mustafa Cözmez eine Schlosserlehre und ging dann als Produktionsarbeiter zu Ford. Seit 1997 ist er dort freigestellter Betriebsrat und sitzt für die Arbeitnehmer im Aufsichtsrat des Unternehmens.
Mustafa Cözmez hat einen deutschen Pass, "aber seine Identität muss man behalten", meint er. "Ich denke Deutsch, ich schreibe Deutsch, ich lebe Deutsch-Türkisch." Seine Ehefrau stammt aus seinem Heimatdorf, er holte sie 1989 nach Köln. "Leider kann sie noch nicht gut Deutsch", sagt Mustafa Cözmez. Als sie einen Sprachkurs besuchen wollte, sei zu oft etwas dazwischengekommen.
Ganz anders sein Sohn Ahmet, der kürzlich eine Lehre als Kfz-Mechatroniker bei Ford begonnen hat - für den 16-Jährigen ist Deutsch die erste Sprache. "Türkisch ist schwer, aber mein Vater legt Wert darauf, dass ich es flüssig spreche." Alle zwei Jahre fährt Ahmet mit seinen Eltern zum Verwandtenbesuch in die Türkei. "Ein Leben dort kann ich mir nicht vorstellen", sagt er. "Ich fühle mich als Deutscher."
Ahmets Großvater Süleyman empfindet anders. "Ich bleibe Türke", so der 68-Jährige. "Das Heimatland ist wie eine Mutter. Die Türkei ist mein erstes Land und Deutschland mein zweites. Behalten will ich beide."