
Deutsche in São Paulo: "Selbst um sechs Uhr morgens motzt niemand, dass es zu früh ist"
Protokoll einer Lehrerin in Brasilien So lebt es sich als Deutsche in São Paulo
"Ich lebe seit anderthalb Jahren in São Paulo und arbeite hier als Lehrerin. Eigentlich wohne ich nicht weit von der Schule entfernt. Deshalb habe ich in der ersten Zeit ein paar Mal versucht, mit dem Rad dorthin zu fahren. Aber das war zu mühsam. Radfahren kann ich hier gar nicht, dachte ich deshalb am Anfang.
Zum Fahrradfahren sind die Straßen schlecht, voller Schlaglöcher, und die Kreuzungen lassen sich kaum überqueren. Falls es mal Radwege gibt, hören sie plötzlich auf. Weil ich aber nicht aufs Radfahren verzichten wollte, radle ich inzwischen nachts, mit einer Gruppe, die ich übers Internet gefunden habe. Wir sind so 60 bis 80 Leute und fahren von neun Uhr abends bis Mitternacht auf den großen Straßen, den Avenidas, durch die Stadt - 40 bis 50 Kilometer am Stück.
Es gibt Guides, die sperren die Straßen ab, bis alle durch sind. Das ist bestens organisiert, und so erlebe ich das hier immer. Selbst bei Großveranstaltungen läuft alles wie am Schnürchen. Ich war zum Beispiel bei einem Fußballspiel bei der Copa America und musste nicht einmal anstehen, um ins Stadion zu kommen. Nur der Verkehr ist zum Teil chaotisch.
Alle sind pünktlich und gut drauf
Zur Arbeit fahre ich rund 20 Minuten mit dem Auto. Das geht noch. Ich habe das Glück, dass ich antizyklisch unterwegs bin, weil die Schule von meiner Wohnung aus gesehen außerhalb liegt. Aber am Wochenende wollen alle raus aus der Stadt. Dann gibt es Stau. Ich fahre gerne mit Kollegen zum Surfen oder auch mal zum Reiten auf eine Fazenda. An den Strand dauert es normalerweise anderthalb Stunden. Wir haben aber auch schon neun Stunden gebraucht.
Die Infrastruktur ist auf Kante genäht. Das Schienennetz ist kaum ausgebaut. Dass man sich einfach in den Zug setzt, um in die Natur zu kommen, wie ich es aus Deutschland kenne, das geht hier nicht. Deshalb fliegt man hier. Nach Rio würde es mit dem Bus sechs Stunden dauern, aber es geht eben auch alle 30 Minuten ein Flug.
Ich fahre nicht nur Rad, sondern bin auch in einigen Laufgruppen. Jemand postet in den sozialen Netzwerken einen Treffpunkt, und jeder kann mitmachen. Brasilianer lassen sich schnell begeistern. Selbst wenn die Laufrunde um sechs Uhr morgens startet, motzt niemand, dass es zu früh ist. Alle sind pünktlich und gut drauf.

Deutsche in São Paulo: "Selbst um sechs Uhr morgens motzt niemand, dass es zu früh ist"
Manchmal verdrehe ich die Augen
Generell empfinde ich die Menschen als höflich, gut erzogen und wahnsinnig hilfsbereit. Niemand nörgelt oder sucht Streit. Das fällt mir total auf. Wenn es im Supermarkt nur langsam vorangeht, fällt es mir schwer, nichts zu sagen. Manchmal verdrehe ich die Augen oder mir rutscht doch etwas Ungeduldiges heraus. Das ist aber eher unhöflich.
Weil immer was los ist, ist es aber leider auch permanent laut. Die Leute sprechen laut miteinander und nennen das ein normales Gespräch. Einfach so dasitzen und die Stimmung genießen, das geht hier nicht. Irgendwer holt immer das Handy aus der Tasche und macht Musik an.
Das ist eine andere Stimmung als in Deutschland: Die Menschen sind einfach positiv. Sie feiern gerne, singen, tanzen. Das mag ich an Lateinamerika! Ich war nach dem Abi ein Jahr in Peru, habe in Chile und Mexiko Verwandte. Deshalb habe ich mich für Brasilien beworben, als ich nach dem Referendariat mit dem Auslandsschuldienst liebäugelte.
Schule mit Schwimmbädern, Kuh und Regenwald

Schul-Regenwald
Foto: privatNun arbeite ich hier seit Januar 2018 als Lehrerin an einer großen Privatschule. Allein der deutsche Zweig hat 700 Schüler, insgesamt sind es rund 10.000. Ich unterrichte Englisch, Geografie und Deutsch als Zweitsprache. Wir orientieren uns am Lehrplan von Baden-Württemberg. Die Bücher kommen aus Deutschland und sind extra in einem Container hierher verschifft worden.
Die Eltern unserer Schüler zahlen ein hohes Schulgeld. Das zeigt sich an der Ausstattung: Wir haben hier eine Fazendinha, einen kleinen Bauernhof mit einer Kuh und anderen Tieren. Es gibt ein Stück Regenwald, ein Pfauengehege und zwei Schwimmbäder - und das alles auf einem gepflegten Campus.
Auch zu Hause habe ich einen tropischen Garten mit Pool. Das ist allerdings nicht gerade üblich. Viele Leute hier in São Paulo wohnen in 25-stöckigen Hochhäusern in kleinen Apartments. Ich dagegen konnte bei meinen Kollegen einziehen. In eine Wohngemeinschaft mit fünf anderen deutschen Lehrerinnen und Lehrern und einem brasilianischen IT-Experten, dem Freund einer Mitbewohnerin und einem Hund.
Wir haben zusammen ein großes Haus mit einem riesigen Wohnzimmer und einer gemeinsamen Terrasse. Am Semesteranfang organisieren wir immer ein Fest für das Kollegium. Unsere WG kennen alle.
Es wird eher mal die Pistole gezückt
Sicherheit ist ein Thema hier. Wir wohnen in einem abgeschlossenen Wohnviertel mit Security auf der Straße. Das ist normal. Kriminalität und Gewalt gibt es, und es kommt vor, dass mal etwas geklaut wird. Mir selbst ist aber noch nie etwas passiert. Zu meinem täglichen Leben gehören diese Themen nicht. Ich fühle mich genauso sicher wie in einer deutschen Großstadt, habe aber den Eindruck, dass Waffen präsenter sind, etwa wenn die Polizei Leute anhält und kontrolliert. Da wird eher mal die Pistole gezückt.
Für Diskussionen sorgt die politische Lage. Während meiner Zeit hier in Brasilien hat sich viel verändert. Seit Januar ist Jair Bolsonaro Präsident. Vor der Wahl gab es schon große Proteste gegen ihn, unter anderem weil er als extrem rechts, frauenfeindlich, homophob und rassistisch gilt. Außerdem will er die finanziellen Mittel im Kultur- und Bildungsbereich deutlich kürzen.
Das wirkt sich auch im Alltag aus. Bei manchen Kulturveranstaltungen, die ich besuche, ist nicht klar, ob sie nächstes Jahr noch stattfinden. Diese Stimmung spürt man. Unsere Schule hält sich politisch zurück. Allerdings haben wir auch keine Einschnitte zu befürchten, weil die Schule sowieso aus privaten Geldern finanziert wird.

Kulturschock: Arbeiten in fremden Welten
Verlängern - oder nicht?
Mein Vertrag läuft nach zwei Jahren aus, also in diesem Winter, mit Option auf Verlängerung. Als Lehrerin habe ich hier in São Paulo weniger Ferien als in Deutschland, muss mehr Pflichtstunden leisten und öfter vertreten, weil die Personaldecke dünner ist.
Dazu kommt, dass die Lebenshaltungskosten hier in São Paulo recht hoch sind. Im Supermarkt und im Restaurant zahlt man deutsche Großstadtpreise. Ein Schnäppchen ist das nicht. Dafür liebe ich die langen Sommer hier. Von Januar bis Juli bin ich nur in Flipflops unterwegs, wenn ich gerade nicht unterrichte. Außerdem gibt es in Brasilien die schönsten Strände der Welt: mit feinem Sand, Palmen und tollen Sonnenuntergängen."

Sind Sie auch ausgewandert, leben nun Tausende Kilometer entfernt von Deutschland und würden gern Ihre Geschichte erzählen?
Dann schreiben Sie uns hier.