Diagnose Burnout Zu viel Job, zu wenig Seele

Ausgebrannt: Wann macht Stress krank? Und wie befreit man sich aus der Mühle?
Foto: Corbis
Stress gehört zum Leben. Aber in einer beschleunigten, vernetzten Welt verkraften viele Menschen die wachsende Belastung nicht mehr, fühlen sich vor allem im Job gehetzt. Ab wann macht Stress krank? Und wie kommt es zum Burnout? Das neue SPIEGEL-Buch "Diagnose Burnout" zeigt, wie man der Überforderung vorbeugen kann. SPIEGEL-Autoren stellen neue Erkenntnisse von Wissenschaftlern, Ärzten und Therapeuten vor. Hier schildert Cinthia Briseño typische Fälle aus der Arbeitswelt.
Ein Software-Spezialist kommt ins Schleudern
Michael Linde (Name geändert) ist 29 Jahre alt, als er sich 1997 mit zwei Partnern selbständig macht. Die Branche brummt, der Bedarf an IT-Beratern ist groß. Linde stellt sich einen entspannten Job vor: "Wir sitzen in einem idyllischen Eckbüro mit einem Gummibaum und machen von 9 bis 17 Uhr für gutes Geld unsere Arbeit", sagt er.
Die ersten Projekte laufen gut, er und seine Kollegen verdienen reichlich und können bald Mitarbeiter einstellen. Dass der Wunschtraum von dem gemütlichen Nine-to-five-Job zu einer 60-Stunden-Woche geworden ist, stört Linde nicht. Das Arbeitsgebiet betrachtet er als großen Spielplatz, auf dem er sich austoben kann. Sein Spieltrieb spornt ihn zu immer anspruchsvolleren Projekten und neuen Wagnissen an. Er meistert sie. Die Zufriedenheit seiner Kunden motiviert ihn enorm. "Und dass ich einen Haufen Geld verdient habe, war eine ungeheure Selbstbestätigung. Ich hatte das Gefühl, ich kann einfach alles."
Theoretisch weiß er um die Gefahren dauerhafter Überarbeitung. Doch Linde verliert das Gefühl für sich, er ist wie besoffen von seinen Erfolgen. "Ich berauschte mich daran, dass mir alles gelang, es war faszinierend", sagt er heute.
Die Firma floriert, die Zahl der Mitarbeiter steigt, mit ihr die Anforderungen an die Führungskraft Linde, dem das Wohl seiner Mitarbeiter sehr am Herzen liegt. Dann plötzlich kommt es zu ersten wirtschaftlichen Krisen. "Niemand von uns wusste, ob es in drei Monaten noch genauso gut laufen würde", sagt Linde. Er sorgt sich - um seine Existenz, um die seiner Mitarbeiter und bekommt einen Tinnitus, der ihn fortan begleitet wie ein treuer Hund.
Neben Tinnitus auch Magengeschwür und Schlafprobleme
Im Jahr 2005 wagt sich der Ingenieur, inzwischen Chef einer fast 40-köpfigen Firma, an ein heikles Projekt, an dem bereits größere Firmen gescheitert waren. "Da hab ich dann fast nur noch gearbeitet", erzählt er. Oft sitzt er morgens schon um sieben Uhr im Büro und ist erst spätnachts wieder zu Hause. Das Privatleben verkommt zur Nebensache. Seine schwangere Frau und seine Freunde sieht er kaum noch. Linde arbeitet Wochenende für Wochenende, er lässt sogar die schon geplanten Urlaube mit seiner Frau ausfallen.
Die Folgen: Das Projekt gelingt, seine Ehe scheitert. Die Trennung von seiner Frau rüttelt ihn auf. Erstmals denkt er intensiv über sich selbst nach, arbeitet sogar mit einer Psychotherapeutin sein Privatleben auf und nimmt sich handfeste Veränderungen vor für seinen Berufsalltag. Weniger arbeiten. Loslassen. Aufgaben auch mal delegieren. Ein Jahr lang hält er das durch. "Bis wieder ein spannendes Projekt auftauchte." Schnell fällt er wieder in seine alten Muster zurück.
2010 bekommt er neben seinem Tinnitus auch ein Magengeschwür und Schlafprobleme. Linde schläft nur noch drei bis vier Stunden pro Nacht. Es beunruhigt ihn nicht, im Gegenteil. "Nun hatte ich mehr Zeit zur Verfügung." Um fünf Uhr morgens Sport, danach zur Arbeit. "Das war wie eine Art Dauer-Jetlag. Aber es war nicht so, dass ich mich durch den Tag schleppen musste. Ich habe trotzdem funktioniert."
Seit einiger Zeit funktioniert Linde nicht mehr. Von einem auf den anderen Tag fehlte ihm etwas Entscheidendes: die Lust. Jegliche Motivation ist verschwunden. "Vieles fühlt sich nur noch bleiern an", sagt er. Den Begriff Burnout scheut Linde. Aber er weiß, dass er in den letzten Jahren schlecht mit sich umgegangen ist. "So kann und möchte ich nicht mehr weitermachen."
Was tun? Er ist jetzt 43 und denkt darüber nach, sein Arbeitsgebiet umzugestalten. Nur wie? Er überlegt, sich mit seinem Problem an einen Coach zu wenden. Vielleicht aber muss er auch eine tiefergreifende Konsequenz ziehen - und der IT-Beraterbranche den Rücken zukehren. "Doch ich bin sehr zuversichtlich, dass ich meine Arbeit in guter Weise umgestalten kann."
Sie hielt sich für unkaputtbar - wie eine Geschäftsfrau an ihre Grenzen gerät
Es ist ein Sommertag im August 2008, der das Leben von Lea Meier (Name geändert) auf den Kopf stellt. Die Speditionskauffrau, 39, knickt um und zieht sich einen Bänderriss zu. Drei Wochen lang muss die sonst so Aktive untätig zu Hause herumsitzen. Das belastet sie, "denn stillsitzen ist nicht mein Ding".
Meier lebt mit ihrem Mann zu der Zeit in einem großen Haus mit Garten. Finanziell geht es ihnen gut. Neben ihrer Vollzeitstelle als stellvertretende Niederlassungsleiterin einer Spedition in einem großen Lebensmittelunternehmen führt sie gemeinsam mit ihrem Mann eine weitere Speditionsfirma. Tagsüber im Büro kümmert sie sich um die Abwicklung von Lkw-Transporten, erstellt Angebote, koordiniert die Überwachung, macht Frachtabrechnungen. Zu Hause stemmt sie die Buchhaltung ihrer eigenen Firma, während ihr Mann viel unterwegs ist.
Die beiden sehen sich kaum - was Meier schmerzlich bewusst wird, während sie mit dem lädierten Fuß zu Hause festsitzt. "Wir hatten ein großes Haus, schöne Autos und keine Zeit füreinander", sagt sie rückblickend. "Wir hatten uns vor lauter Arbeit total auseinandergelebt." Diese Erkenntnis trifft sie plötzlich mit voller Wucht und lässt sie handeln: Sie trennt sich von ihrem Mann, zieht in eine eigene Wohnung. Für ihre Freiheit verzichtet sie sogar auf alle Besitzansprüche, auf die gemeinsame Firma und auf ihren Anteil des Hauses.
"Ich habe immer gedacht, ich bin nicht kaputtzukriegen"
Doch nach ihrer dreiwöchigen Zwangspause wird Lea Meier krank. Ständig hat sie Sodbrennen, ihr Appetit verschwindet, sie nimmt zehn Kilogramm ab. Dazu kommen Schwindel, Rückenschmerzen und Herzrasen. So massiv, dass sie eines Tages glaubt, kurz vor dem Herzinfarkt zu sein. Meier ist wie besessen von ihren Leiden. Stundenlang sitzt sie vor dem Computer. "Ich habe nur noch von und mit Dr. Google gelebt", sagt sie. Zwei Jahre lang geht das so.
Sie probiert es mit der Schulmedizin, geht zum Heilpraktiker. Sie versucht es mit Homöopathie und Reiki, lässt sich auf Kinesiologie ein, sucht einen Schamanen auf. Keine der Behandlungen hilft. Schließlich geht sie zu einer Psychotherapeutin. "Dabei habe ich so etwas immer verurteilt", erzählt sie. Heute ist sie froh, dass sie diesen Schritt gewagt hat. "Ich hätte sonst den Verstand verloren." Doch als die Therapeutin ihr sagt, sie habe ein Burnout, ist sie zunächst skeptisch. Sich selbst einzugestehen, dass sie ausgebrannt war, sei das Schlimmste daran gewesen. "Das hat ja was mit Schwäche zu tun", findet Meier, "ich habe immer gedacht, ich bin nicht kaputtzukriegen."
Eine genauere Betrachtung ihrer Situation, bevor sie krank geworden war, klärte schon einiges: Kurz vor dem Bänderriss hatte Meier eine anspruchsvolle Aufgabe übernommen, für die sie mehrere Monate in eine andere Stadt zog. Sie sollte eine Abteilung der Firma im Ruhrgebiet schließen und andernorts wieder auf bauen. "Das war eine Flut von Reizen und Anforderungen für mich", erzählt sie. "Weg von zu Hause und plötzlich in einer Verantwortung, in der es ja auch um Menschen geht." Großer Druck lastete auf ihr, schließlich wollte sie nicht versagen. Sie arbeitete bis zu 15 Stunden am Tag, schlief kaum noch, fühlte sich aber wie auf Droge. "Da war ich ganz weit oben."
Der Chef tickt aus, wenn er das Wort Burnout nur hört
Nachdem die Aufgabe bewältigt war, fiel sie in ein großes Loch. Mehrere Monate "dümpelte ich nur so vor mich hin", sagt sie, dann kam der Bänderriss. Durch ihre Therapie hat sie inzwischen begriffen, wie tief sie schon damals in der Burnout- Spirale steckte. Es scheinen Kleinigkeiten zu sein, aber sie spielten eine Rolle: Der Chef, dem sie sehr vieles aus dem Privatleben anvertraute, der immer wusste, wo sie ist, und oft auch bei ihr und ihrem Mann zu Hause zu Gast war. Oder die Freunde, die ihr später sagten, sie sei mitunter sehr aggressiv und rabiat gewesen.
Drei weitere Fälle soll es in ihrer Firma geben; gesprochen wird darüber nicht. Und auch Meier, die sonst sehr resolut ist und immer klar ihre Meinung äußert, schweigt über ihr Burnout. "Mein Chef tickt aus, wenn er das Wort hört."
Deshalb macht sie äußerlich weiter wie bisher. "Nur nach Feierabend hat sich mein Leben verändert", sagt sie, "die Arbeit hat dort nichts mehr zu suchen." Und umgekehrt hält sie ihr Privatleben aus dem Job heraus. Ans Aufhören denkt sie nicht. Die Motivation hat sie trotz der tiefen Krisen nie verloren. "Ich bin ein Stehaufmännchen", sagt Meier, "und ich liebe meinen Job."
Gelbe Karte vom Körper - ein Außendienstler beginnt, unter seiner Arbeit zu leiden
An einem Abend im Frühjahr 2011 kommt Georg Holst (Name geändert) erschöpft nach Hause. Bei der Arbeit ist ihm ein Patzer unterlaufen: Eine Vertriebsaktion an mehrere Kunden ging mit falschen Zahlen raus. Der Mittdreißiger ist Versicherungsangestellter im Außendienst. Seine Kunden sind Arbeitgeber, denen er Versicherungslösungen anbietet - als Sozialleistungen für deren Mitarbeiter. Eine Altersversorgung für die Angestellten etwa oder private Zusatzleistungen beim Zahnarzt. Ein strategisches Zukunftsprojekt in Zeiten des demografischen Wandels. Holst ist einer der ersten Mitarbeiter, die die neuen Produkte an den Mann bringen sollen.
Sein Job ist die Neuakquise von Firmenkunden aller Art in der Region. Vom Handwerker mit zehn Angestellten bis zum Großunternehmen. Wie er das macht, liegt bei ihm. Konstruktives, kritisches Feedback gibt es wenig. Vieles an seiner Arbeit macht Holst Freude: Er lernt Branchen aller Art kennen, redet mit Geschäftsführern wie Sachbearbeitern. Er spricht gern mit Menschen, das hilft ihm, denn er muss Begeisterung versprühen, seine Kunden davon überzeugen, dass es sich lohnt, in ihre Mitarbeiter zu investieren. Drei Jahre macht er den Job nun. 200 Kunden stehen inzwischen auf der Liste.
An diesem Tag im Frühjahr wird durch seinen Fehler das Vertrauen zwischen ihm und einigen seiner Kunden schwer auf die Probe gestellt. Überhaupt läuft es gerade nicht so gut. Er hat das Gefühl, dass er auch bei anderen Kunden nicht so recht vorankommt. Und er macht in letzter Zeit häufiger Fehler.
"Ich muss mich ändern - und nicht das System"
Auf dem Weg in eine Bar, wo er mit Freunden verabredet ist, geht sein Handy kaputt. Und alles um ihn herum wirkt so unheimlich laut. "Als hätte man mir Lautsprecher in die Ohren eingepflanzt", erzählt Holst. Als er sich an den Tresen setzt, fängt plötzlich sein Herz zu rasen an. Er bekommt einen Schweißausbruch, die Hände kribbeln, die Finger fühlen sich taub an. Ihm wird übel. Er fragt sich: Herzinfarkt? Schlaganfall? Er ruft die Gesundheits-Hotline seiner Krankenkasse an, eine Ärztin beruhigt ihn und rät, durchzuatmen, runterzukommen und sich zu erholen.
Er solle seinen Hausarzt aufsuchen. Der diagnostiziert einen Erschöpfungszustand. "Das war die Gelbe Karte von meinem Körper", sagt Holst rückblickend. Er hört darauf; zwei Wochen schreibt ihn der Arzt krank. In dieser Zeit setzt er sich mit seinem Problem auseinander. Liest alles, was er zum Thema Burnout finden kann, fängt mit Yoga an, denkt über seine Verhaltensmuster nach. Schließlich geht er zu einem Burnout-Spezialisten, der ihm bestätigt, dass er erschöpft sei. Da er aber sein Problem bereits in Angriff genommen habe, halte er eine Therapie nicht für nötig.
Holst sagt sich: "Ich muss mich ändern - und nicht das System. " Also steigt er vom Auto auf die Bahn um. Rund 40 000 Kilometer pro Jahr saß er früher am Steuer. "Ich nannte es ›Living in a box‹", erzählt der Versicherungsfachmann: "Man schläft in einer Kiste, steigt in eine Kiste und fährt darin, um den Kunden in einer Kiste zu besuchen." Während der Fahrt führte er ständig noch geschäftliche Telefonate, fragte seine E-Mails ab auf dem Smartphone.
Gelassenheit lernen
Im Zug versucht Holst jetzt, die Dauererreichbarkeit herunterzufahren, er liest viel, manchmal gönnt er sich sogar ein Schläfchen. "Man kann eine E-Mail auch mal am kommenden Tag beantworten", sagt er, "davon geht die Welt sicherlich nicht unter."
Holst ist der Meinung, dass es vor allem das "ständige Rumgerase" war, das ihm seine Kräfte geraubt habe. "Zu viel Job, zu wenig Seele", sagt er. Oftmals arbeitete er von 8.30 bis 21 Uhr. Nun hat er sich eine "Gehaltserhöhung" gegönnt, wie er es ausdrückt: "Ich bekomme das gleiche Geld, aber ich versuche, häufiger von 9 bis 17 Uhr zu arbeiten. Meine Arbeitsqualität ist besser und der Stundenlohn auch."
Er gibt zu, dass ihm der Wandel nicht leicht fällt. "Ich will meine Arbeit immer gut machen. Aber ich will auch, dass sie Sinn ergibt." Noch muss er lernen, in manchen Situationen gelassener zu sein. "Man darf sich nicht verrückt machen lassen", sagt er. Früher grübelte er nächtelang über seinen Probleme und konnte nur schwer einschlafen. Das gehe schon viel besser, sagt Holst. "Ich hab die Kurve gekriegt."
"Dann sage ich mir: Stopp, Elisa!" - wie eine Krankenschwester vergisst, an sich selbst zu denken
Für andere da sein, schwächeren Menschen helfen: Elisa Waldner (Name geändert) ist mit ganzem Herzen Kinderkrankenschwester, seit 26 Jahren. Ihr Berufsleben beginnt auf einer Intensivstation für Frühchen. Dort arbeitet sie jahrelang und erlebt, wie die winzigen Babys den Kampf ums Leben gewinnen, manche aber auch nicht. Diese emotionale Last hält sie irgendwann nicht mehr aus, sie wechselt. Mit 32 übernimmt sie die Leitung der Kurzzeitpflege für schwerbehinderte Kinder.
Leichter ist die neue Arbeit nicht. Aber Waldner mag die positivere Atmosphäre, vor allem den Kontakt zu ihren jungen Patienten und das Vertrauen der Eltern. Zudem lockte sie die Führungsposition: eine Herausforderung, genau das Richtige für sie.
In ihrem Job geht sie auf: Sie isst und spielt mit den Kindern, hilft ihnen beim Waschen und Anziehen, gibt ihnen Wärme und Geborgenheit. Die Zeit dafür wird allerdings immer knapper, denn die organisatorischen Aufgaben nehmen zu. Mehrere Stunden täglich telefoniert sie mit Eltern, die Fragen zur Einrichtung haben, führt sie durch die Station, erklärt und informiert mit viel Geduld. Nebenbei kümmert sie sich um Dienstpläne, führt Protokolle über Patienten, hastet zu Sitzungen. Jede Menge Überstunden sammeln sich an.
"Als die Tür hinter mir zufiel, habe ich nur noch geweint"
Wird ein Kollege krank, ist sie die Erste, die einspringt, auch am Wochenende. Das ist kein Problem für sie, glaubt sie, schließlich ist sie Single und flexibel. Die Arbeit an den Wochenenden empfindet sie sogar als vergleichsweise erholsam: kein Telefon, das dauernd klingelt, kein Organisationskram. So kann sie sich intensiver um die Kinder kümmern, die tatsächlich auch zufriedener wirken.
Von Freunden kommen die ersten Warnungen. "Pass auf dich auf, du bist ja fix und fertig", sagen sie zu ihr. Waldner winkt ab. "Bald habe ich Urlaub. Nach zwei Wochen bin ich wieder frisch." Doch eines Tages sackt sie innerlich zusammen, jeder Gang auf die Station fällt ihr ungemein schwer, sie spürt keinerlei Lust mehr auf ihre Arbeit. Ihre Kollegen sorgen sich um sie, raten ihr, auch mal an sich zu denken.

Helferkrankheiten: "Schwäche ist tabu"
Ende 2004 geht sie zu ihrer Hausärztin. Die überweist sie zum Psychotherapeuten und will sie bis dahin krankschreiben. "Das habe ich abgelehnt", erzählt Waldner. Sie arbeitet weiter bis zu ihrem Gespräch beim Neurologen. Der gibt ihr eine Woche Bedenkzeit: Will sie so weitermachen, womöglich bis zum Zusammenbruch?
Waldner entscheidet sich für eine Therapie. Die "Bedenkwoche" verbringt sie mit intensiver Arbeit. "Da habe ich noch mal richtig geackert, Dienstpläne vorbereitet und meinen Platz aufgeräumt", erzählt sie, "damit ich guten Gewissens gehen kann." Als die Woche zu Ende geht, fällt es ihr schwer, sich von den Kindern zu verabschieden. "Ihnen sagen zu müssen, ich kann mich jetzt nicht mehr um euch kümmern, ich muss an mich denken, das tat richtig weh", erinnert sie sich. "Als die Tür hinter mir zufiel, da habe ich nur noch geweint."
Auszeit direkt nach der Arbeit
Die wöchentlichen Gespräche mit dem Therapeuten helfen ihr. Auch sonst nutzt sie die sechs Monate zu Hause, kümmert sich um sich, macht nur, was ihr guttut: ausschlafen, mit ihrer Freundin spazieren gehen, Bücher verschlingen. Und sie erfüllt sich einen Kindheitstraum: Sie beginnt mit dem Reiten. Noch heute, sieben Jahre später, fährt sie zweimal pro Woche auf den Reiterhof.
Nach ihrer Auszeit entscheidet sie sich wieder für eine Station mit schwerkranken Kindern, manche von ihnen sterben. Doch sie ist jetzt stärker und merkt, wenn es ihr zu viel wird. Sie fordert freie Tage ein und nimmt sich auch im Alltag mehr Zeit für sich: So frühstückt sie morgens in Ruhe und nimmt sich direkt nach der Arbeit mindestens eine Stunde, um abzuschalten.
Trotzdem bemerkt sie einige Male wieder erste Anzeichen großer Erschöpfung. Für solche Momente hat sie sich in ihrem Schlafzimmer ein Merkblatt bereitgehängt, das zehn Phasen bis zum Burnout beschreibt. "Ich guck dann da drauf und frage mich: Wo stehst du denn da jetzt gerade? Und wenn nötig, dann sage ich mir: Stopp, Elisa!"

Autorin Cinthia Briseño ist bergsteigende Biochemikerin, hat in München über Viren promoviert und schreibt über Medizin. Sie leitet das Ressort Gesundheit bei SPIEGEL ONLINE.