Die lieben Kollegen Kleines Lexikon der Schleimerei

Sicher kennen Sie die Geschichte vom Kaiser, der neue Kleider kauft, vor seine Höflinge tritt und bestaunt und bewundert wird. Doch als ihn das Volk sieht, ist das Gelächter groß: Der Kaiser ist splitternackt! Keiner seiner Höflinge hatte den Mut, ihm die Wahrheit ins Gesicht zu sagen.
Dieses Spiel läuft in den Firmen jeden Tag ab. Ein Chef sagt Liefertermine zu, führt Produkte ein, fährt Werbekampagnen, plant Fusionen oder steuert neue Märkte an, während seine Mitarbeiter längst wissen: Das geht schief. Denn sie sprechen jeden Tag mit den Kunden, kennen den Markt im Detail und haben live miterlebt, wie der letzte Chef über ähnliche Mätzchen gestolpert ist.
Aber welcher Mitarbeiter wagt es, dem Kaiser die Wahrheit zu sagen? Die Kollegen teilen sich in drei Gruppen: in solche, die ihre Bedenken äußern - sie gelten beim Chef als "Miesmacher". In solche, die sich ihren Teil denken - sie gelten beim Chef als Mitläufer. Und in solche, die den Irrweg bejubeln - sie gelten beim Chef als seine Leute.
Kriechen vor dem Tyrannosaurus Rex
Wenn Angestellte danach gieren, vom Boss gesehen und gelobt zu werden, hat diese Sehnsucht auch praktische Gründe. Wer entscheidet darüber, ob ein Mitarbeiter eine Abmahnung oder eine Belobigung bekommt, eine Beförderung oder eine Degradierung, eine Gehaltskürzung oder eine Gehaltserhöhung? Wer kann ihn zur tollsten Fortbildung, aber auch auf die Straße schicken?
Der Chef stellt die Weichen einer Karriere. Wer ihn vergrault, hat verloren. In jeder Firma gibt es Kollegen, die vor lauter Buckelei zum Orthopäden müssten. Mit dieser Strategie lässt sich umso mehr Karriere machen, je autoritärer geführt wird. Ein Tyrann vom alten Schlag verlangt bedingungslose Gefolgschaft.
Wo Rückgrat stört, wird Kriechen zur Kunst. Wie gehen Kollegen vor, die eine so dicke Schleimspur ziehen, dass ein umgekippter Eimer Tapetenkleister daneben gar nichts ist? Mit welchen Tricks bringen sie sich als Hofdiener ihres Kaisers in Position? Und wie ihre Kollegen in Misskredit? Dieses kleine Lexikon der Schleimerei verrät Ihnen augenzwinkernd, aber nicht ohne wahren Kern, wie die schlimmsten Streber und Heuchler ticken.
Von A wie Anpassung bis F wie Fesselfetisch
A wie Anpassung
Kriecher dienen dem Chef in allen Gestalten: als Boxsack, wenn er sich abreagieren will; als Jubelperser, wenn er Zustimmung braucht; und als Sprengstoff-Entschärfer, wenn er sich an einem Vorgang nicht die Finger verbrennen will. Sie sind nicht sie selbst - sie sind, was der Chef gerade von ihnen erwartet.
B wie Bescheidenheit
Mehr Gehalt? Wozu! Weniger Überstunden? Ach was! Eine neue Planstelle? Bloß nicht! Was seine Kollegen fordern, meist mit Recht, lehnt der Schleimer ab, meist mit Kalkül. Die anderen sollen gierig wirken - er wie ein Muster an Bescheidenheit.
C wie Chefanbetung
Der Schleimer betet seinen Vorgesetzten an. Der Chefwille soll geschehen, wie in der Geschäftsleitung so im Außenhandel. Die Forderung nach dem täglichen Brot - siehe Bescheidenheit - verkneift er sich jedoch. Dafür bittet er um Vergebung, auch wenn er keine Schuld auf sich geladen hat.
D wie Delegier-Bettelei
Keine Arbeit ist so widerlich, dass der Kriecher sich nicht dafür beim Chef andienen würde. Sondermüll entsorgen, Dokumente fälschen, Kollegen vor dem Arbeitsgericht verraten: kein Problem. Erst kommt der Chef - dann kommt die Moral.
E wie Ergebenheit
Der Ergebene liefert sich dem Chef so bedingungslos aus, als würde ein Futtertier freiwillig in den Löwenkäfig spazieren. Er ist das Opfer auf dem Chefaltar. Er lässt seine Arbeitsenergie verschlingen und seinen Charakter zerfetzen, bis er als Person unkenntlich wird - und eins mit dem Universum, eins mit dem Chef.
F wie Fesselfetisch
Wo der Chef ist, dort ist er. Wo er ist, dort ist der Chef. Als wären die beiden aneinander gefesselt. In Gegenwart seines Meisters fühlt sich der Kriecher zwanzig Zentimeter größer - und dreimal so wichtig wie Kollegen, die Abstand halten (müssen). Wahrscheinlich würde er seinen Boss sogar auf die Toilette begleiten, müsste er derweil nicht dessen Aktentasche bewachen.
Von G wie Glanzlosigkeit bis L wie Leibeigenschaft
G wie Glanzlosigkeit
In Gegenwart der Kollegen putzt sich der Schleimer als Musterschüler heraus. Doch an der Seite seines Chefgurus glänzt an ihm nur noch der silberner Kugelschreiber, den er diesem ergebenst reicht. Er ist der Mann im Schatten des Rampenlichts; er will dem Boss nicht die Schau stehlen!
H wie Heuchelei
Ein Chef-Umschwänzler teilt immer die Meinung seines Chefs. Und wenn er sie einmal nicht teilt, etwa weil er selbst entlassen werden soll, ist er loyal genug, so zu tun, als ob. Heuchelei bis zur Selbstaufgabe und darüber hinaus!
Ja wie Jasagerei
Schleimer geben dem Chef immer ihr Jawort, auch wenn sie's nicht halten können. Chef: "Ist das noch zu schaffen?" - "Ja!" - "Finden Sie meine Idee gut?" - "Ja!" "Werden wir Weltmarktführer?"- "Ja!" Nur auf eine Frage, die ihre Kollegen bejahen, reagieren sie anders: "Sehen Sie da ein Problem?" - "Nein!"
K wie Kleinmacherei
Der Kriecher tut alles, sich kleiner und den Chef damit größer zu machen. Er sagt zu Ideen und Taten des Meisters: "Da wäre ich nie drauf gekommen!" oder "Ihren Mut möchte ich haben". Das betont die eigene Nichtigkeit - und die Wichtigkeit des Chefs.
L wie Leibeigenschaft
Hart gesottene Schleimer dienen dem Chef auch privat. Sie graben seinen Garten um, wienern sein Auto und geben seinen unartigen Kinder Nachhilfe in ihrem eigenen Lieblingsfach: in bedingungslosem Gehorsam. Der Chef pfeift sie mit einem ähnlichen Kommando wie seinen Schäferhund herbei. Nur führt er sie an der engeren Leine.
Von M wie Mitgefühl bis T wie Taubheit
M wie Mitgefühl
Das Mitgefühl des treuen Paladins geht so weit, dass er jede Niederlage seines Chefs als eigene verbucht - so wie ein Fußballfan, wenn sein Club verliert. Schuld an der Schlappe sind: der Markt, die Kollegen, das Horoskop - doch nie der Chefheilige selbst.
N wie Nur-Sagerei
Wenn ein Schleimer es wagt, in Gegenwart des Chefs einen eigenen Gedanken zu äußern, nimmt er diesen beim Aussprechen schon wieder zurück: "Ich wollte nur anmerken ...", "Ich hatte nur eine Idee ..." "Nur" heißt: "Natürlich, verehrter Chef, rede ich Blödsinn - radiere meine Wort mit deiner Klugheit aus!" Das passiert dann auch immer.
O wie Ostfront-Mentalität
Auch wenn die Schlacht verloren ist, der Schleimer unter der Arbeit fast zusammenbricht, ein Termin wie ein ICE auf ihn zurast und sein Herzinfarkt "Hallo!" sagt: Nie würde er die Waffen strecken. Zu groß ist die Verlockung, für den Chef in die ewigen Jagdgründe gehen zu dürfen - und vorher noch einen Tapferkeitsorden zu bekommen.
P wie Petzbereitschaft
Kollegen lästern, stibitzen Büromaterial, runden Reisespesen auf. Und wer flüstert es dem Chef ins Ohr? Sein Geheimagent 00 Doppel-S: Schleimer und Spion - in einer Person.
Q wie Quallenarme
Der Schleimer reißt Arbeiten mit Quallenarmen an sich und hält sie so fest, dass kein anderer Kollege eine Chance hat - sofern es Arbeiten aus der Hand des Chefs sind. Eifersüchtig wacht er darüber, dass kein Kollege in den Genuss einer "Chefsache" kommt. Zur Not wird er zur Giftqualle.
R wie Rastlosigkeit
Mittagspause? Feierabend? Urlaub? Machen nur die Kollegen. Der Schleimer kennt keine Rast. Am liebsten lockt er den Chef ins Großraumbüro, wenn er dort ganz allein sitzt. Chef: "Wo sind denn die anderen?" Er (im Ton des Märtyrers): "Das frag' ich mich allerdings auch!"
S wie Schleimerei
Er schmiert dem Chef so viel Honig um den Bart, dass die Imker vor der Tür - Stichwort "Zweitverwertung" - schon Schlange stehen. Seine Komplimente an den Chef fallen stets zwei Nummern größer aus, als man es gerade noch für vertretbar hielte. Zum Beispiel bezeichnet er alltägliche Ideen als "absolut genial". Wer nach ihm ins Chefbüro geht, rutscht garantiert aus. Auf der Schleimspur.
T wie Taubheit
Eigentlich hört er vorzüglich auf den Chef. Doch wenn er hört, was er nicht hören soll, etwa ein Geschäftsgeheimnis, dann hat er es nicht gehört. Er ist so diskret, wie es nur geht - es sei denn, er kann die Kollegen beim Chef anschwärzen. Das ist etwas anderes.
Von U wie Überstundenhunger bis Z wie Zuhör-Masochismus
U wie Überstunden-Hunger
Er winselt nach zusätzlicher Arbeit wie ein Hund nach seinem Futter. Die beste Stunde für ihn heißt: Überstunde. Wenn ihn nicht gerade ein Erdbeben aus dem Gebäude treibt - oder auch dann - wartet er mit seinem Feierabend ab, bis er den Chef mit einem Bückling verabschiedet hat. Nur die treusten Matrosen gehen erst nach dem Kapitän von Bord.
V wie Vorsagen
Ein wichtiges Meeting. Fünf Geschäftspartner sitzen am Tisch. Da verliert der Chef den Faden: "Was wollte ich jetzt sagen?" Die große Stunde des Schleimers. Er, der jedes Wort des Chefs auswendig kann, springt ein: "Sicher wollten Sie darauf hinaus, dass ..." - "Stimmt, danke", sagt der Chef. Und der Arbeitstag, ach was: das Arbeitsjahr des Schleimers ist gerettet.
W wie Wendigkeit
Vor allem ein Körperteil muss beim Schleimer sehr beweglich sein: Er braucht einen Wendehals. Nur so kann er auf die Kehrtwendungen des Chefs reagieren und heute Beschlüsse bejubeln, die gestern noch als "irrsinnig" gegolten hätten - zum Beispiel eine Fusion. Dagegen sind Mitarbeiter, die den Chef an sein Geschwätz von vorgestern erinnern, bei diesem etwa so beliebt wie der Steuerprüfer.
Z wie Zuhör-Masochismus
Die Monologe des Chefs - ein einziges Schlafmittel. Aber nur für die Kollegen. Während sie einnicken, ist der Schleimer am Kopfnicken. Und klebt an den Lippen seines Hirten, als würde er der Bergpredigt lauschen - und nicht der aufgewärmten Fassung einer Motivationsrede, die noch genauso schlecht vor für fünfzehn Jahren ist.