Ehrenrettung der Dienstleistung Wir sind nicht das kleine gallische Dorf

Möchtegern-Asterix (Florian Pronold im fränkischen Fasching): Deutschland als letzte Bastion der Industriewirtschaft?
Foto: David Ebener/ dpaFast drei Viertel aller Beschäftigten in Deutschland arbeiten im Dienstleistungssektor. Allein in den letzten 20 Jahren ist ihr Anteil an allen Erwerbstätigen um 14 Prozent gestiegen: ein Zuwachs von 23,4 Millionen Menschen in den letzten 60 Jahren. Dienstleistungen sind seit Jahren ein Motor der Beschäftigung.
Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) selbst war es, das diese Bilanz wiederholt gezogen hat. Umso mehr überraschte der Text von IAB-Chef Joachim Möller zu den "Mythen der Arbeit" mitten in den Koalitionsverhandlungen. Es könnten sich ja nicht alle dauerhaft gegenseitig die Haare schneiden, zitiert Möller den früheren BDI-Präsidenten Hans-Olaf Henkel, und fragt schließlich selbst: "Sollte man alles auf die Karte 'Dienstleistungen' setzen?" Sein Fazit: "Aus meiner Sicht wäre eine solche Strategie verfehlt."
Was wäre denn die Konsequenz? Sollen sich alle Menschen einen dritten Fernseher ins Kinderzimmer stellen? Diese Gegenfrage zeigt doch: Eine Struktur- und Beschäftigungspolitik, die vorrangig auf das produzierende Gewerbe setzt, ist nicht zukunftsfähig. Die Wertschöpfung in Deutschland kann ebenso wenig allein von Fernsehern wie von Haarschnitten getragen werden. Wir brauchen eine gute Mischung, gute Arbeitsplätze in Industrie und Dienstleistung.
Es gibt nicht nur Friseure
Damit das gelingt, darf man nicht ausschließlich auf die klassischen Dienstleister schauen, die Friseure, die Optiker. Die Dienstleistungsentwicklung vollzieht sich nicht zuletzt über die beiden dynamischen Bereiche der care und share economy.
Was bedeuten diese Schlagworte? Die care economy beschreibt alle Pflegeberufe im weitesten Sinn, die share economy alle Dienste, die Kunden ein Wirtschaftsgut leihen statt es zu verkaufen.
Fangen wir mit der care economy an: In einer Gesellschaft des langen Lebens entscheidet sich die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit wesentlich über die Gesundheitsberufe. Qualitativ hochwertige medizinische Betreuung, Pflege, Physiotherapie sind wertschöpfende Berufe im wahrsten Sinn des Wortes.
Ihr gesamtwirtschaftlicher Beitrag, ihr Anteil am Bruttosozialprodukt könnte dabei deutlich höher ausfallen, wenn endlich auch im Dienstleistungsbereich durchgängig leistungsgerechte Löhne gezahlt würden. Noch sind viele dieser Jobs als typische Frauenberufe mit dem Ruch behaftet, hier werde "familiennahe" Arbeit erbracht, für die es eigentlich keine besondere Qualifikation brauche - und solche Arbeit dürfe dann auch unbezahlt oder prekär sein. Das führt dazu, dass der gemessene Beitrag dieser Jobs zum zur Wirtschaftsleistung des Landes unterbewertet wird.
Kein Wunder also, dass vor allem in den Dienstleistungsbranchen nach einem gesetzlichen Mindestlohn gerufen wurde: Im Verhandlungsdreieck zwischen Arbeitgeber, Arbeitnehmer und Kunde ist die Verhandlungsposition der Arbeitnehmer häufig zu schwach, um ein existenzsicherndes Einkommen zu erzielen.
Experimente mit geliehenen Produkten
Joachim Möllers Beitrag übersieht nicht nur die care economy als Beschäftigungsmotor in unserer Gesellschaft des langen Lebens, er negiert auch die Dynamik der share economy. Obwohl wir längst wissen: Die Zukunft der Automobilindustrie liegt nicht im Verkauf von immer mehr Autos, sondern im Angebot von Mobilitätsdienstleistungen. Neben Car-Sharing gehört Parkplatz-Sharing zur experimentellen Produktpalette der Unternehmen, die vor 20 Jahren noch wesentlich auf das Industrieprodukt gesetzt haben.
Romantische Vorstellungen vom Industrieland Deutschland können wir uns nicht leisten. Wir sind eine moderne Dienstleistungsgesellschaft. Wir sind nicht das kleine gallische Dorf, das als letztes die rauchenden Schlote und ratternden Maschinen gegen eine moderne Wirtschaftsentwicklung verteidigt. Wichtig für die Zukunft Deutschlands ist Wettbewerbsfähigkeit in den Dienstleistungsbereichen, die nur durch gute Arbeit und Innovationsanstrengungen gelingen kann.
In den Wertschöpfungsketten, auf die Möller zurecht verweist, ist der eigenständige Innovationsanteil der Dienstleistungen längst zum Treiber geworden. Kein Hersteller von Endprodukten kann noch einen expandierenden Markt erobern, ohne sich auf die intelligenten Dienstleistungsanteile zu stützen, die in Chips, in neuen Medien und Computerkommunikation liegen.
Der von Möller revitalisierte Dualismus, der die Förderung von Industrieansiedlungen ins Zentrum moderner Wirtschafts- und Beschäftigungspolitik stellt und den Dienstleistungsbranchen die Brosamen dieser Politik zuweist, führt in die Irre.

Eva M. Welskop-Deffaa (Jahrgang 1959) ist im Bundesvorstand der Dienstleistungsgewerkschaft Ver.di zuständig für Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik. Die Volkswirtin ist außerdem Mitglied im Verwaltungsrat der Bundesagentur für Arbeit.