

Marlies Kolsch denkt bei Nomaden an Leute, die ihre Miete nicht zahlen und Wohnungen verwüsten. Ihr Sohn Thorsten Kolsch denkt bei Nomaden an seine Freunde.
Mutter Kolsch, 66, gelernte Stenotypistin, hatte früher viele Aushilfsjobs und eine Modeboutique, die nicht gut lief. Die Schulden zahlte sie zwei Jahre lang ab. Von der Selbstständigkeit hält die Rentnerin seither nichts.
Thorsten Kolsch, 34, selbständig im Onlinemarketing, träumt von einem Leben ohne festes Büro. Er reist gern und braucht für seine Arbeit nur einen Laptop und ein Handy. Beides trägt er immer bei sich. Kolsch will digitaler Nomade werden.
In Artikeln und Blogs hat er über die modernen Wanderarbeiter gelesen: Darüber, dass es immer mehr werden und dass sie inzwischen eine eigene Konferenz in Berlin abhalten.
Doch bevor er selbst den Schritt wagt, wollte er digitalen Nomaden Fragen stellen. Schafft man es wirklich, ständig auf Reisen zu sein und trotzdem Geld zu verdienen? Oder, wie Kolsch sagt: "Scheint den Nomaden die Sonne aus dem Arsch?"
Er reiste durch Deutschland und interviewte fünf rastlose Laptop-Arbeiter. Heraus kam der Dokumentarfilm "Digitale Nomaden - Deutschland zieht aus". Nachdem der Film abgedreht war, stand Kolschs Entscheidung fest: Er wollte es als digitaler Nomade versuchen.
Einen Tag vor der offiziellen Premiere will Thorsten Kolsch seinen Eltern den Film zeigen. Marlies Kolsch und ihr Mann Eberhard, 77, sind für die Vorführung extra von Nordrhein-Westfalen nach Hamburg gereist. Andere in ihrem Alter bräuchten nach so einer Autofahrt ein Nickerchen. Nicht die Kolschs, die beiden wirken aufgekratzt. "Wir wollen doch wissen, was Thorsten macht", sagt Vater Kolsch. Morgen geht es weiter zur Premierenfeier nach Berlin. "Für ein paar Tage sind wir seine Filmnomaden."
"Veränderungen hasse ich"
Bei der privaten Vorführung sitzen sie auf breiten Sesseln, beide so dicht an die Lehne gedrückt, dass sie sich fast berühren. "Ha", ruft Vater Kolsch. Sein Sohn hatte eine Nomadin im Film nach Existenzängsten gefragt. "Was ist das eigentlich?", fragt sie zurück. "Die Angst, dass man nicht mehr existiert? Oder dass das Geld weg ist? Dann würde ich wohl meine Eltern anrufen."
Ein unstetes Leben - nichts für Kolsch senior: "Veränderungen hasse ich." In 45 Berufsjahren wechselte er zweimal die Firma, 28 Jahre war er bei einer Brauerei im Finanzwesen angestellt. Computer gab es anfangs nicht. Und schon gar keine, mit denen man auf Reisen gehen konnte. "Hat aber auch funktioniert", sagt er.
Vater: "Im Einstellungsgespräch sagte mir der Personalchef: 'Gehen Sie davon aus, es handelt sich hier um eine Lebensstellung.' Das war wie ein Sechser im Lotto."
Sohn: "Klingt für mich wie ein Witz. Oder eine Drohung."
Im Film sagt eine junge Frau, ihren Angestelltenjob habe sie als Gefängnis empfunden. Vater Kolsch runzelt die Stirn. "Das ging mir nie so. Die Arbeit hat mir Spaß gemacht, und ich konnte mich frei bewegen." Und doch kann er die Pläne seines Sohnes nachempfinden. "Er will raus und hat einen Job, mit dem das geht."
Für sie selbst hätte das Ganze auch etwas Gutes, wirft seine Frau ein und schaut rüber zu ihrem Sohn. "Wir können dich überall besuchen!" Mutter Kolsch würde am liebsten mit ihm losziehen. "Wenn das zu meiner Zeit schon möglich gewesen wäre, hätte ich das auch ausprobiert."
Im Sommer verkaufte Thorsten Kolsch Möbel und Klamotten. Was übrig ist, passt in zwei große Koffer. Drei Tage die Woche arbeitet er bei einem Kunden in Hamburg, in der Zeit wohnt er bei einem Freund. Ansonsten ist er in Deutschland und Europa unterwegs. Langfristig will Kolsch komplett ortsunabhängig arbeiten.
Mutter: "Dass du gleich deine Wohnung aufgeben musstest... Die hättest du doch untervermieten können."
Vater: "Jeder braucht einen Rückzugsraum."
Sohn: "Wenn die Wohnung untervermietet ist, kann ich aber auch nicht kommen und gehen, wann ich will."
Mutter: "Aber dann hättest du was Eigenes."
Anja Tiedge (Jahrgang 1980) arbeitet als freie Journalistin in Hamburg.
Der Film "Digitale Nomaden - Deutschland zieht aus" von Thorsten Kolsch und Tim Jonischkat ist in ausgewählten Kinos zu sehen.
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Nomaden-Eltern: Eberhard und Marlies Kolsch nehmen ihren Sohn Thorsten bei der Premiere seines Films "Digitale Nomaden - Deutschland zieht aus" in ihre Mitte. Als die Eltern erfuhren, dass der Junior selbst als moderner Nomade von unterwegs arbeiten will, waren sie zunächst entsetzt.
"Nichts für Bodenständige": Auch im Film kommen die Kolschs zu Wort. Vater Eberhard kann die Pläne seines Sohns nachvollziehen - für ihn selbst wäre das unstete Leben aber nichts, sagt er. Mutter Marlies würde am liebsten zusammen mit ihrem Sohn losziehen.
Café-Schicht: Im Moment arbeitet Thorsten Kolsch drei Tage in Hamburg, ansonsten verdient er sein Geld da, wo Rechner und Smartphone sind - in Cafés, der Bahn oder am Strand. Langfristig will Kolsch komplett ortsunabhängig arbeiten.
Den Nomaden hinterher: Für seinen Dokumentarfilm ist Kolsch quer durch Deutschland gefahren und hat Menschen interviewt, die von unterwegs arbeiten. Nach Drehschluss beschloss er selbst, seine Wohnung zu kündigen und moderner Nomade zu werden.
Tim Chimoy beschloss auf dem Rückflug aus dem Australien-Urlaub, seinen Job zu kündigen. Als digitaler Nomade betreibt er mehrere Webseiten und arbeitet freiberuflich für Architekten.
Reisebloggerin Feli Hargarten ist seit mehr als zehn Jahren als Backpackerin weltweit unterwegs. "Meine Eltern mussten sich erst mal daran gewöhnen, dass ich nicht 30 Jahre in einem Unternehmen bleibe", sagt sie im Film.
Ben Paul schmiss sein Jurastudium an einer Elite-Uni, um sich als Blogger für alternative Bildungswege einzusetzen. Auch er kommt im Film zu Wort.
"Das ist die geilste Freiheit, die du haben kannst", sagt Sebastian Canaves im Film-Interview über sein Leben als Nomade. Er betreibt ein Reiseblog und gibt Blogger-Kurse.
"Wenn ich vorm Laptop sitze, vergesse ich die Zeit", erzählt Bloggerin Connie Biesalski, die zusammen mit Canaves online Blogger schult und ebenfalls ein Reiseblog betreibt. Das digitale Nomadenleben ermögliche ihr komplette Selbstverwirklichung.
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