Fachkräftemangel Wer hat Angst vor der Killerstatistik?

Triebwerktest bei Rolls-Royce: Beim Fachkräftemangel nicht in Panik verfallen
Foto: dapdLaut geht die Klage von Unternehmerverbänden und der Bundesagentur für Arbeit über den angeblich drohenden Fachkräftemangel und besonders über einen Mangel an Ingenieuren durchs Land. Doch wenn man genauer hinsieht, ist von einem kurzfristig drohenden Mangel nichts zu sehen. Und die Langzeit-Mangelprognosen beruhen auf unrealistischen Annahmen. Eine Ausnahme bilden lediglich Elektromonteure, Ärzte und Pflegekräfte.
Der Bundesverband Deutscher Arbeitgeber (BDA) sprach im Juli 2009, also mitten in der Wirtschaftskrise, von 60.000 fehlenden Mathematikern, Informatikern, Naturwissenschaftlern und Technikern. Ein Jahr später hieß es, die Situation habe sich weiter verschlimmert. Im Mai 2011 wagte sich der Chef der Bundesagentur für Arbeit, Frank-Jürgen Weise, mit einer Langzeitprognose in die Öffentlichkeit: Im Jahre 2025 könnten in Deutschland 6 bis 7 Millionen Fachkräfte fehlen.
Karl Brenke nahm im Wochenbericht 46/2010 des Deutschen Instituts für Wirtschaftswissenschaft (DIW) die vom Institut der deutschen Wirtschaft (IW) im Auftrag der BDA vorgelegten Warnmeldungen methodisch und sachlich auseinander. Brenkes wichtigste Kritikpunkte:
- Um die Zahl der offenen Stellen für Ingenieure zu überschlagen, hat das IW einfach auf Basis einer kleinen Umfrage-Stichprobe angenommen, dass auf jede bei den Arbeitsagenturen gemeldete offene Stelle sechs weitere kommen, die die Unternehmen dort nicht melden. Als Arbeitskräfteangebot betrachtete das IW aber nur die registrierten Arbeitslosen. Ein ziemlich schiefer Vergleich, weil offene Stellen auch dann entstehen, wenn Beschäftigte den Betrieb wechseln und durch andere Betriebswechsler oder durch Hochschulabsolventen ersetzt werden, die sich nicht arbeitslos melden. Brenke resümiert trocken: "Ein Erkenntnisgewinn kann aus einem solchen Verfahren nicht resultieren."
- Der Markt reagiert auf Mangelsituationen normalerweise mit steigenden Preisen. Wären Fachkräfte und Ingenieure wirklich rar, müssten die Gehälter deutlich steigen. Das tun sie aber nicht. Sie stagnieren seit Jahren, und Fachkräften geht es dabei nicht besser als anderen Beschäftigten. Die Bruttostundenlöhne für herausgehobene Fachkräfte sanken preisbereinigt 2008 sogar ab (um 0,1 Prozent), stiegen 2009 um 0,5 Prozent, im 1. und 2. Quartal 2010 um 0,4 bzw. 0,2 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Zahlen für 2011 liefert eine Kienbaum-Studie : Demnach steigen die Grundgehälter bei Fachingenieuren 2011 nominal um durchschnittlich 2,7 Prozent. Preisbereinigt dürften das etwa 0,5 Prozent sein.
- Die schwache Gehaltsentwicklung hat mit der nach wie vor hohen Arbeitslosigkeit auch unter Technikern und Ingenieuren zu tun und mit den hohen Absolventenzahlen. In den meisten naturwissenschaftlich-technischen Berufen ging die Zahl der Beschäftigten zwischen 2008 und 2010 sogar überdurchschnittlich stark zurück, und die Zahl der Arbeitslosen wuchs entsprechend. Nach Zahlen der Bundesagentur für Arbeit kamen im Oktober 2010 zum Beispiel auf 2657 arbeitslose Chemiker und Chemieingenieure ganze 288 offene Stellen.
- Die Zahl der Ingenieurstudenten ist seit 2007 sprunghaft angestiegen und liegt in den meisten Fächern weit über dem Ersatzbedarf. Bei Maschinen- und Fahrzeugbauingenieuren kamen 2009 nach einer Überschlagsrechnung von Brenke auf rund 9000 ausscheidende Beschäftigte rund 23.000 Absolventen.
Bewerber können sich nur verwundert die Augen reiben: Wer nicht fast alle geforderten Bewerber-Qualifikationen besitzt, wird erst gar nicht zum Gespräch eingeladen. Wenn Bewerber knapp wären, würden die Arbeitgeber sie einstellen und dann deren Wissenslücken schließen. Stattdessen kommt die Weiterbildungsbranche fast zum Erliegen. Noch nicht einmal den langjährigen Mitarbeitern gönnen viele Unternehmen regelmäßige Fort- und Weiterbildung. Sieht so Angst vor fehlendem oder knapp werdendem Fachwissen aus?
Unheilvolle Demografie?
Was aber mag die Zukunft bringen? Ist da nicht aus demografischen Gründen Unheil zu erwarten? Die Weise-Zahl von 6 bis 7 Millionen fehlenden Fachkräften anno 2025 beruht auf einem "Hintergrundpapier" des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB), das der normalen Öffentlichkeit nicht zugänglich ist. Die Prognose beruht auf einigen merkwürdigen Annahmen:
- Es gibt keine Wanderungsbewegung mit dem Ausland.
- Die Erwerbsquote der Erwerbsfähigen erhöht sich nicht.
- Die Rente ab 67 wirkt sich nicht auf die Erwerbsquote aus.
Warum sollte es in einem Land, wo Arbeitskräfte knapp sind, keine Zuwanderung aus dem Ausland geben? Warum sollte, wenn Arbeitskräfte knapp sind, nicht die Erwerbsquote steigen, schon allein durch den Abbau der Arbeitslosigkeit?
Ein kurzer Blick auf die Prognosen des Statistischen Bundesamtes zeigt die Größenordnung dieser äußerst unwahrscheinlichen Annahmen. Selbst unter der schlechteren der beiden Hauptvarianten der 12. Koordinierten Bevölkerungsvorausberechnung aus dem Jahre 2009 sinkt die Zahl der Erwerbsfähigen (20 bis unter 65 Jahre) von 49,7 Millionen in 2008 auf geschätzte 45,3 Millionen in 2025. Das würde ein Produktivitätswachstum von 0,3 Prozent pro Jahr schon ausgleichen. Außerdem sinkt mit der sinkenden Bevölkerungszahl auch der Bedarf an Arbeitskräften, etwa im Gesundheitswesen. Stiege die Erwerbsquote unter den Erwerbsfähigen durch Abbau von Arbeitslosigkeit, früheren Einstieg ins Berufsleben und mehr Frauen im Beruf, schlüge das zusätzlich positiv in die Rechnung. Die Rente ab 67 lassen wir vorsichtshalber einmal beiseite.
Die Überschlagsrechnungen zeigen, dass die Zahl von 6 bis 7 Millionen fehlenden Fachkräften im Jahre 2025 besser nie das Licht der Welt erblickt hätte. Sie lenkt von vielen heutigen Problemen ab. Auch das IAB ist inzwischen zurückgerudert und spricht jetzt plötzlich nur noch von einer 3,5-Millionen-Lücke, die aber nicht unbedingt zu einem wirklichen Fachkräftemangel führen müsse.