Fazit einer Gründerin "Man muss auch Zehn-Minuten-Arbeiten berechnen"
Schneiderin für Unterwäsche, das war schon als Kind Carolyn Bendahans Traumberuf - weil sie die Unterröcke und die Nachtwäsche ihrer Großmutter so hübsch fand und fasziniert war von Omas Geschichten als Anprobemodell für eine Gräfin. Die Adlige hatte keine Lust, für ihre Schneiderin stillzustehen und heuerte deshalb Frauen mit ähnlichem Körperbau als Double an.
"Ich wollte nie etwas anderes werden als Maßschneiderin für Dessous", sagt Bendahan. Sie ließ sich zur Schneiderin und zur Schnitttechnikerin ausbilden, studierte Bekleidungstechnik, arbeitete für die Modemacherin Jil Sander und wagte dann den Schritt in die Selbstständigkeit mit einem Stipendium für Hamburger Existenzgründer und einem Bankkredit in Höhe von 15.000 Euro.
Als der SPIEGEL vor neun Jahren über ihre Firmengründung berichtete, verkaufte Bendahan nicht nur Dessous nach Maß, sondern auch Showoutfits für Bodybuilderinnen. "Es läuft sehr gut", sagte sie damals. "Mein Ziel ist es jetzt, mich mal richtig freizuschwimmen und eine Kollektion für Bademode zu starten."

Carolyn Bendahan
Foto: Daniel ZanderVon dieser Kollektion träumt sie noch immer. In ihrer Werkstatt arbeitet sie gerade an den ersten Zuschnitten, ausgerechnet die Coronakrise hat ihr diesen Freiraum verschafft. Denn Bendahan ist gerade in Kurzarbeit. Sie hat ihre Selbstständigkeit vor mehr als drei Jahren aufgegeben und ist in der Produktionsplanung eines Textilherstellers zur Abteilungsleiterin aufgestiegen.
"Dessous nach Maß zu verkaufen war eine fantastische Geschäftsidee, aber ich hatte die Nebenkriegsschauplätze nicht im Griff", sagt Bendahan.
Vor allem ein Fehler sei entscheidend gewesen: Alles allein zu machen. Stoffe einkaufen, Kundinnen abmessen, Rechnungen schreiben, Werbeanrufer am Telefon abwimmeln, zuschneiden, nähen, und immer wieder ändern.
Eine Kundin klingelte sie sonntagmorgens um 6 Uhr früh aus dem Bett, um ihr mitzuteilen, dass sie nun doch lieber hellblaue Träger an ihrem BH hätte. Eine andere wollte ihren Push-up-BH zurückgeben, weil ihre Haut am Dekolleté Falten schlug. Und eine Dritte wollte die Musterwäsche, die nur als Größenvergleich gedacht war, nicht anprobieren, weil ihr die Farbe nicht gefiel.

"Ich hatte die Nebenkriegsschauplätze nicht im Griff"
Carlos Kella
Unterwäsche zu schneidern erfordert sehr viel Nähe, schließlich machen sich die Kundinnen im wörtlichen Sinne nackt. Aber genau diese Nähe wurde bei Rechnungen und Reklamationen zum Problem, sagt Bendahan, weil viele Kundinnen sie eher wie eine Freundin behandelten – und erwarteten, dass sie Probleme "mal eben schnell" als Freundschaftsdienst löse, unentgeltlich, versteht sich.
Auch Bendahan selbst fiel es schwer, für vermeintlich nichtige Arbeiten wie das nachträgliche Annähen eines Häkchens zusätzlich Geld zu verlangen: "Da denkt man, ach na ja, das ist schnell gemacht, das wäre ja peinlich, so was in Rechnung zu stellen. Aber letztlich summieren sich solche Aufgaben. Heute weiß ich: Wenn man seine eigene Leistung wertschätzt, muss man auch Zehn-Minuten-Arbeiten berechnen."
Ein höherer Kredit wäre besser gewesen
Rund 200 Euro verlangte sie für einen maßgeschneiderten BH. Viel Geld, aber für sie blieb trotzdem nur ein, wie sie sagt, "gruseliger Stundenlohn" übrig. Denn abmessen, Material einkaufen, nähen, anprobieren und ändern dauert seine Zeit, dazu kommen Kosten für Stoff, Werkstattmiete, Nähmaschinen. Ihr Fazit heute: "Ich hätte das ehrlicher kalkulieren oder mit anderen Projekten quer finanzieren müssen."
Die 15.000 Euro Kredit für ihre Unternehmensgründung waren zu wenig, wie Bendahan rückblickend sagt: "Die Kalkulation war so knapp, dass ich keinerlei Spielraum hatte. Ich hätte mir lieber 25.000 Euro leihen und jemanden suchen sollen, der mir administrative Aufgaben abnimmt und zum Beispiel für mich die Rechnungen schreibt."
So versuchte sie, alles allein zu wuppen. Wenn sie spätabends fertig war mit dem Tagegeschäft ging es an die nächsten Punkte der To-do-Liste; die Webseite für Suchmaschinen optimieren, neue BH-Bügel ordern. Es hörte nie auf. Und für die geplante Bademodenkollektion blieb keine Zeit.
Bendahan fühlte sich zunehmend gestresst. Trotzdem zögerte sie sieben Monate lang, das Jobangebot einer Modefirma anzunehmen. Sie hatte in der Firma eine Schulung zum Thema Schnitttechnik gegeben und als eine Stelle in der Produktionsplanung frei wurde, war sie die Wunschbesetzung.
"Die Zusage ist mir wirklich schwergefallen", sagt sie. "Es war der richtige Schritt, aber tief in mir drin steckt immer noch der Wunsch nach Selbstständigkeit. Ich bin niemand, der mit festen Arbeitszeiten klarkommt. Bei mir kommt der Antrieb erst, wenn der Gedanke da ist – und wenn das nachts um 1 Uhr ist, dann lege ich eben nachts los." Für ihre Kollegen war das gewöhnungsbedürftig. Aber sie selbst hat das Gefühl, durch die Festanstellung sogar "unternehmerischer" geworden zu sein.
Früher hatte sie schon ein mulmiges Gefühl, wenn sie für mehrere Hundert Euro BH-Bügel bestellte. Heute zeichnet sie Rechnungen in sechsstelliger Höhe ab. Natürlich fällt das leichter, wenn nicht das eigene Vermögen auf dem Spiel steht – aber es hat sie auch dazu gebracht, größer zu denken.
Ein eigenes Unternehmen würde sie heute nicht mehr als Ein-Frau-Firma planen. "Ich würde nicht mehr alles selbst nähen. Und auf jeden Fall die Finanzen und den persönlichen Kundenkontakt trennen. Ich wollte für meine Kundinnen alles möglich machen. Das war gut gemeint, führte aber nur zur Überforderung."
Ein modulares System aus Einzelteilen, die dann jeweils nach Maß zu vorab festgelegten Preisen angepasst werden, sei viel Erfolg versprechender als der Ansatz, jeden Wunsch erfüllen zu wollen. "Dann weiß jede: Okay, das kostet so und so viel und wenn ich noch einen Extrahaken oder eine Schleife will, kommt das und das drauf."
Ob sie tatsächlich noch mal den Schritt in die Selbstständigkeit wagt? Bendahan weiß es selbst nicht genau. Lust darauf hätte sie. Und die nötigen Maschinen auch. Ihr Label "Braviange" hat zwar keine großen Gewinne abgeworfen, aber der Kredit ist zurückgezahlt - und die Nähmaschinen gehören jetzt ihr.
"Ich bin fein mit allem", sagt sie. "Es war eine gute Zeit. Ich war nicht gut darin, die private Caro von der Unternehmerin abzugrenzen. Das würde mir heute wahrscheinlich immer noch schwerfallen, aber ich habe viel dazugelernt."