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Arbeitsbelastung Wer hat meinen Urlaub geklaut?

75 Millionen Urlaubstage verfallen in Deutschland pro Jahr. Aber nicht, weil die Arbeitnehmer keine Lust hätten. Ihre Chefs luchsen ihnen den Urlaub ab. Wer sich dennoch loseisen kann, dem droht der Rückkehr-Horror.
Strand auf Tobago: Am besten ausdrucken und neben den Monitor hängen - wenn's mal wieder mit dem echten Urlaub nicht klappt

Strand auf Tobago: Am besten ausdrucken und neben den Monitor hängen - wenn's mal wieder mit dem echten Urlaub nicht klappt

Foto: Friedel Gierth/ picture alliance / dpa

Die Wirtschaftsprüferin Ulla Kunze, 36, schob so viele Urlaubstage vor sich her, dass sie das Gefühl hatte, mit Mitte 50 in Rente gehen zu können. Dabei wollte sie einfach nur in Urlaub. Also nahm sie wieder mal einen Anlauf: "Ich würde gern ab dem 10. April für drei Wochen urlauben. Klappt das?"

Ihr Chef nickte. "Grundsätzlich ist das kein Problem. Sie schieben ja schon viel Urlaub vor sich her..." Er stockte, als hinge das nächste Wort zwischen seinen Zähen fest.

"Aber…", half ihm Ulla Kunze, denn sie kannte diese Argumentation von den letzten Urlaubswünschen. "Aber die Voraussetzung ist: Organisieren Sie, dass sich in Ihrer Abwesenheit jemand um Ihre Arbeit kümmert."

Klappe zu, Urlaub tot! Die Kollegen lagen so tief unter eigener Arbeit verschüttet, dass sie keine weiteren Aufgaben annehmen konnten. Das war ja auch der Grund, warum Kunze so viele Urlaubstage angesammelt hatte - genau wie ihre Kollegen. Der Chef zog sich raffiniert aus der Affäre: Er stellte ein großzügiges Ja in den Raum, knüpfte es aber an Bedingungen, die nicht zu erfüllen waren. Die Zusage kam von ihm; die Absage musste sich die Mitarbeiterin selbst erteilen.

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Immer mehr Vorgesetzte machen den Urlaub von der Arbeitswetterlage abhängig. Wenn gerade der eisige Projektwind durchs Haus pfeift, ein neuer Auftragsregen prasselt, ein Entlassungsorkan ein paar Kollegen weggefegt und die Arbeitslast erhöht hat - dann muss der Urlaub halt warten. Das liegt dann nicht am Chef, das liegt am Wetter.

Urlaub mit Jojo-Effekt

Es ist lächerlich: Diejenigen, die das Arbeitswetter machen, die Abteilungen besetzen und Aufträge annehmen, verwenden eben dieses Arbeitswetter als Argument, um Mitarbeitern den Urlaub zu verweigern. Dabei wäre es ihre Pflicht, jede Abteilung mit so vielen Mitarbeitern zu besetzen, dass alle ihren Jahresurlaub bekommen. Und was - wenn nicht die pure Geldgier - zwingt Firmen eigentlich, mehr Aufträge anzunehmen, als Arbeitskraft zur Verfügung steht, diese zu bewältigen?

Ulla Kunze ist kein Einzelfall: Pro Jahr verschenken die deutschen Arbeitnehmer 75 Millionen Urlaubstage im Wert von neun Milliarden Euro. Leichter kann ein Unternehmer sein Geld nicht verdienen! Wobei der Ausdruck "schenken" es nicht trifft: Die Mitarbeiter verzichten nicht freiwillig, sondern weil sie sich durch den Arbeitsdruck dazu genötigt fühlen. So mancher will Pluspunkte bei seinem Chef sammeln, auf dass die nächste Entlassungswelle ihn verschone. (Natürlich ist das eine naive Hoffnung.)

Hinzu kommt: Der Urlaub, den die Mitarbeiter nehmen, ist meist kein Urlaub. Das liegt am Jojo-Effekt, der ähnlich ist wie bei einer Diät: Erst nimmt der Stress ein paar Kilo ab, wenn man in Urlaub fährt, aber dann legt er noch mehr Gewicht zu, wenn man zurück an den Arbeitsplatz kommt.

Früher gab's Vertretungen

Bis in die neunziger Jahre war das anders. Wer im Urlaub war (oder auf Dienstreise oder krank), hatte für diese Zeit einen Stellvertreter. Wichtige Vorgänge wurden bearbeitet, Telefonate entgegengenommen, tobende Kunden beruhigt. Wer zurück zur Arbeit kam, musste beim Anblick seines Schreibtischs nicht mit einem Schock rechnen.

Heute sind diese Zeiten vorbei. Stellvertreter gibt es nur noch auf dem Papier. In der Praxis sind sie so tief unter der eigenen Arbeit vergraben, dass sie den Nachbarschreibtisch nicht einmal sehen, geschweige denn die dort auflaufende Arbeit mitmachen könnten.

Ein Abwesender ist ein leichtes Opfer. Die virtuellen Schrotflinten nehmen sein E-Mail-Fach unter Beschuss, schnell ist eine vierstellige Zahl von E-Mails aufgelaufen. Auf dem Schreibtisch stapeln sich Deppen-Aufgaben, die der Chef dort ablädt, weil ein Abwesender sich nicht wehren kann. Und dank der vielen Post-it-Zettel sieht sein Bildschirm aus, als hätte er Gelbsucht bekommen.

Der Urlaub ist eine Hypothek

Und nun dürfen Sie raten, an was ein Mitarbeiter in seinem Urlaub pausenlos denkt: nicht an Drinks unter Palmen, nicht ans Rauschen des Meeres, nicht an seine Erholung. Er denkt an die Katastrophe, die ihn an seinem Arbeitsplatz erwarten wird: an Müll- und Mailberge, an überfällige Vorgänge und aufgelaufene Beschwerden. Eigentlich müsste ihn bei seiner Heimkehr in die Firma ein Betriebsseelsorger begleiten. Oder ein Rettungssanitäter mit Sauerstoffzelt.

Es ist ein Trickbetrug: Wer Urlaub bekommt, ohne dass seine Arbeit derweil erledigt wird, hat eben doch keinen Urlaub - seine Arbeit wird nur auf die Zeit danach verschoben. Ich kenne zahllose Mitarbeiter, die für eine Urlaubswoche von 40 Stunden damit büßen, dass sie diese Zeit in kleinerer Münze wieder an die Firma zurückbezahlen. Zum Beispiel durch zwanzig Arbeitstage mit jeweils zwei Überstunden. So wird der Urlaub zur Hypothek.

Wie schnell das Erholungs- und Glücksgefühl nach einem Urlaub verpufft, fand die Universität Tel Aviv durch eine experimentelle Studie heraus: nach drei Tagen. Wer am Montag zurück in die Firma kommt, dessen Nerven liegen schon am Donnerstag wieder fast so blank wie vor der Auszeit.

"Erholung ist die Würze der Arbeit", schrieb der weise Grieche Plutarch einst. Doch viele Firmen versalzen ihrer Belegschaft den Urlaub. Eine dünne Personaldecke diszipliniert: Mitarbeiter scheuen sich, in Urlaub zu fahren, auch wenn sie Erholung bräuchten. Sie scheuen sich, zu Hause zu bleiben, auch wenn sie krank sind. Keiner will seine Kollegen, die ohnehin auf dem Zahnfleisch gehen, durch seine Abwesenheit überlasten. Und so wird der Urlaub wieder mal verschoben.

Der Artikel ist ein gekürzter Auszug aus Martin Wehrles Buch "Bin ich hier der Depp? - Wie Sie dem Arbeitswahn nicht länger zur Verfügung stehen". Mehr davon demnächst auf KarriereSPIEGEL.

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