

Benediktiner-Mönche leben nach dem Grundsatz "Ora et labora et lege", also "Bete, arbeite und lies". Dieses Motto könnte für viele geistliche Brüder und Schwestern im Kloster gelten, doch die Benediktiner haben sich einen Mythos erarbeitet: Sie gelten als die "ersten Berufstätigen" des Abendlands.
Schon Jahrhunderte, bevor in Europa Fabrikschlote den Himmel vollqualmten und die Heere des Proletariats allmorgendlich am Fabriktor von der Stempeluhr registriert wurden, wussten die Benediktiner, was der Schlüssel zu Produktivität und Effizienz ist: ein strukturierter Tagesablauf, das Zügeln der Zeit.
Benediktiner hatten natürlich keine Stechuhren, keine Stempelautomaten, keine Dienstpläne oder Arbeitszeitkonten - die Tage bekamen früher ihren Rhythmus durch die Glockenschläge, die vom Kirchturm herunter klangen, und den Schatten, den die Sonnenuhr warf.
Für die breite Masse bekam so etwas wie Pünktlichkeit, ein klarer Beginn und ein klares Ende der Arbeitszeit erst mit Beginn der Industrialisierung eine Bedeutung. "Zeit ist Geld", soll Benjamin Franklin gesagt haben, einer der Gründerväter der USA. Die Fabrikbesitzer hatten ein Interesse daran, die Arbeitszeit ihrer Angestellten genau zu kontrollieren; Verstöße gegen die Vorschriften sanktionierten sie mit Strafen.
Echte Stechuhren hatten nur die Nachtwächter
Pünktlichkeit wurde zur Tugend des Kapitalismus: Ohne sie gab es keine Akkordarbeit, es konnten nur schwer Produktionsziele, Zeiträume und Mengen über Wochen im Voraus geplant werden. Die Arbeit in der Fabrik erforderte Zeitdisziplin von den Angestellten, und die Kontrolle sollte dafür sorgen, dass sie sich diese Disziplin als Lebenskonzept antrainierten.
Mitte des 19. Jahrhunderts begannen die Arbeitgeber damit, am Eingang der Fabrik die Namen der ankommenden Arbeiter aufzuschreiben. Etwas später gab es die ersten Kontroll-Systeme mit Nummernschildern, die am Eingang an ein Brett gehängt wurden - schließlich standen Ende des 19. Jahrhunderts die ersten "Arbeiter-Kontrollapparate" in den Fabriken.
Echte "Stechuhren" waren die meisten dieser Geräte jedoch nicht. Die Arbeiter mussten ihre Arbeitszeit auf kleine Kärtchen stempeln, oder ein Apparat warf einen Zettel mit Ende und Beginn des Tagewerks aus. Echte Stechuhren trugen nur Nachtwächter mit sich herum: In diesen Geräten war eine Papierrolle eingezogen. Die Wächter stachen bei ihren nächtlichen Kontrollgängen an verschiedenen Stationen Löcher hinein, um zu dokumentieren, dass sie ihre Runde auch vollständig gemacht hatten.
Weniger Uhren, mehr Kontrolle
Das Wort "Stechuhr" ist trotzdem die Metapher für die Zeitkontrolle und das Arbeits-Überwachungs-Regiment im Kapitalismus geworden. Die Form der Zeiterfassung steht symbolisch für den Herzschlag der industriellen Produktion mit den täglichen rituellen Wiederholungen und den nie enden wollenden Schleifen an Werktischen, Fließbändern und Produktionsstraßen.
Heute gibt es Stempeluhren und mechanische Arbeitszeitkontrollen nicht mehr so häufig. Trotzdem erfassen laut einer Umfrage der Fachhochschule Furtwangen 70 Prozent der Betriebe weiterhin die Arbeitszeiten der Mitarbeiter. Computer und Chipkarte haben Stech- und Stempeluhr abgelöst, doch die Kontrollmöglichkeiten der Arbeitgeber sind dadurch nur gestiegen: Mit einer Chipkarte dokumentiert ein Arbeitnehmer häufig nicht nur seine Arbeitszeiten, er öffnet auch Sicherheits-Türen am Arbeitsplatz, bezahlt sein Essen damit - und die meisten Karten lassen sich mit moderner Radio-Frequenz-Technologie überall orten.
Bei den Benediktinern dagegen gibt es bis heute keine Stechuhr, keine Stempeluhr. Und Chipkarten schon gar nicht.
Anm. d. Red.: In einer früheren Version dieses Textes stand, Benjamin Franklin sei US-Präsident gewesen; das ist falsch. Wir haben diesen Fehler inzwischen korrigiert und bitten um Entschuldigung.
KarriereSPIEGEL-Autor Markus Flohr (Jahrgang 1980) ist freier Journalist und Buchautor. Er hat in Israel gelebt und darüber das Buch "Wo samstags immer Sonntag ist" geschrieben.
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Mönche, vor allem die Benediktiner gelten als Pioniere der Berufstätigkeit: Sie teilten sich schon vor Jahrhunderten ihren Arbeitstag intelligent ein und ordneten die Stunden mit Hilfe der Kirchglocken und der Sonnenuhr - freilich nicht, um einen Profit zu erwirtschaften, sondern, damit genug Zeit zum Beten bleibt: "Ora et labora". Stechuhren waren für sie völlig überflüssig - und sind es bis heute. .
Als die Industrialisierung begann und die Menschen zum Arbeiten an Fließbänder und in Fertigungshallen strömten, suchten die Fabrikbesitzer nach einer Möglichkeit, den Arbeitsablauf und die Arbeitszeit zu kontrollieren. Sie brachten am Eingang der Fabriken Geräte an, mit deren Hilfe jeder Arbeiter den Beginn und das Ende seiner Schicht dokumentierte, wie hier um 1900 bei der Firma Bürk in Schwenningen. Das Gerät in der Mitte ist ein "Bürk-Bundy-Schlüsselapparat", den die Firma Bürk selbst herstellte.
Pünktlichkeit wurde zur Tugend, die der Arbeitgeber seinen Angestellten anerziehen wollte. Für ihn bedeute verpasste Arbeitszeit oder Unpünktlichkeit einen Verlust - das will jedenfalls dieses Werbeplakat der Firma Bürk-Bundy aus dem Jahr 1915 symbolisieren. Damit das nicht passiert, sollte sich jeder Betrieb eine Stechuhr oder Stempeluhr zulegen, will Bürk-Bundy nahe legen. Den Namen "Stechuhr"...
...trugen jedoch streng genommen nur Apparate wie diese zu Recht: Bei der "Tragbaren Wächterkontrolluhr", etwa aus dem Jahre 1870, führte ein Nachtwächter bei seinem Kontrollgang einen Markierschlüssel in die Uhr ein - dieser betätigte eine Federzunge, die mit ihrem spitzen Ende ein Loch in einen Papierstreifen drückte, der in der Uhr um ein trommelförmiges Metallrad gespannt ist. Beim...
..."Radialapparat Bürk-Bundy Original" stellten die Arbeiter mit dem Hebelrad in der Mitte ihre Personalnummer auf dem Rad ein, und stochen mit der Spitze des Hebels in die Vertiefung, die zu ihrer Nummer gehörte. Im Inneren der Uhr wurde dadurch der Beginn und beim zweiten Mal das Ende einer Schicht auf ein Blatt Papier gedruckt. Radialapparate gab es für 33, 50, 100 und 150 Beschäftigte. Das hier abgebildete Gerät stammt aus England und aus dem Jahre 1931. Die Stechuhren wurden in den großen Fabriken schnell verdrängt von...
...den Stempeluhren. Geräte wie dieser "Zeit-Datums-Stempler" kamen ab 1920 zum Einsatz. An der Oberseite des Kastens läuft unter einem Loch ein Farbband durch und über dem Loch sieht man den Stempelhammer hängen. Der...
..."Kartenapparat Bürk-Bundy" wurde von etwa 1929 bis 1974 in der "Württembergischen Uhrenfabrik Bürk & Söhne" in Schwenningen hergestellt. Auf dem Bild stecken die Arbeiterinnen und Arbeiter um das Jahr 1950 bei der Firma "Kienzle Taxameter" in Villingen gerade zu Arbeitsbeginn ihre Karten in einen Schlitz, der sie mit Datum und Uhrzeit bedruckt. Etwas später stellte die Uhrenindustrie auf Elektronik um.
Um 1970 gab es kaum noch mechanische Geräte. Dieses Scheckkarten-Gerät der Firma Hasler aus Bern in der Schweiz (1974) ist vollelektronisch und wurde zur Erfassung der gerade eingeführten Gleitzeit eingesetzt. Es zeigt automatisch die aufgelaufenen Monatsstunden und das Gleitzeitkonto an. Am Monatsende macht der "Hasler Microcomputer CT 733" automatisch eine Abrechnung. Er war der erste auf dem deutschen Markt erfolgreiche Zeitcomputer. Die meisten Geräte dieser Art sind heute nicht mehr im Einsatz, eine große Sammlung historischer Arbeitszeitmesser können aber im TECHNOSEUM Mannheim und im Uhrenindustriemuseum Villingen-Schwennigen besichtigt werden.
Heute steckt in der Stempeluhr von damals ein kompletter Computer, gestempelt wird auch nichts mehr, schon gar nicht gelocht oder gestochen. Der "Kaba Zeiterfassungsterminal B-Net 93 20" sammelt seine Daten, indem die Arbeiterinnen und Arbeiter einen Sender, zum Beispiel in einem Schlüsselanhänger oder einer Karte an einem Lesegerät im Betrieb vorbei führen, die Scanner lesen die Daten per Radio-Frequenz-Technologie (RFID) aus und übermitteln sie dann an den Computer. Das Gerät kann 100.000 Buchungen von bis zu 20.000 Angestellten erfassen, es kann Türen überwachen, Urlaubsanträge verarbeiten und über das Touchscreen-Display kann sogar das Mittagessen bestellt werden. Der Rechner kann sich das alles genau merken: Dann vielleicht doch lieber wieder die hundert Jahre alte Stechuhr? Die...
...Mönche vom Benediktiner-Orden "St. Ottilien" in der Nähe von München juckt das überhaupt nicht. Sie arbeiten, beten und lesen heute immer noch nach den Regeln, die der Heilige Benedikt von Nursia im sechsten Jahrhundert in der "Benediktusregel" aufgeschrieben hat.
Benediktiner-Mönch Tassilo Lenger ist Leiter der Land- und Forstwirtschaft der Erzabtei St. Ottilien. "Ora et labora et lege", das gilt für die Mönche wie schon vor Jahrhunderten. Stechuhren kommen ihnen nicht ins Haus, Chipkarten erst recht nicht.
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