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Turbozeichner Mal mir eine Konferenz

Nicht grübeln, spontan zeichnen! Dass Zuhörer bei Vorträgen wegdämmern, verhindern Spezialisten wie Mathias Weitbrecht und Malte von Tiesenhausen. Als "Graphic Recorder" übersetzen sie blitzschnell komplexe Inhalte in bunte Bilder.
Von Pauline Schinkels, Benjamin Braden und Anne Martin

31 Minuten und 50 Sekunden können seeeehr lang sein. Besonders bei Konferenzen, wenn vorn ein Redner über komplizierte Themen spricht, in Bandwurmsätzen mit vielen Fremdwörtern. Wenn dann die Luft im Raum immer dünner wird und die ersten Zuhörer auf ihren Stühlen dösen, gibt Mathias Weitbrecht dem Gehirn einen neuen Kick. In Deutschland können nur wenige, was er kann. Der Hamburger übersetzt komplexe Inhalte - nicht etwa in eine andere Sprache, sondern in Bilder.

Sein Beruf: Graphic Recorder. Noch nie gehört? Aber vielleicht schon einmal gesehen: bei Konferenzen, Symposien, Kongressen. Weitbrecht arbeitet vorwiegend dort, wo Politiker, Wissenschaftler und Wirtschaftskapitäne lang und klug reden. Er verwandelt ihre Vorträge in Zeichnungen, live. Auch bei einer Konferenz für nachhaltige Entwicklung in Berlin, als er eine Rede von Bundeskanzlerin Angela Merkel übersetzte.

31 Minuten und 50 Sekunden, exakt so lange dauerte ihr Vortrag über Haushaltskonsolidierung, Binnennachfrage und das Erneuerbare-Energien-Gesetz. Merkel stand im grauen Kostüm auf dem Podium, vor Hunderten hochkarätiger Gäste. Weitbrecht hockte am Bühnenrand und zeichnete.

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Konferenzzeichner: Bitte ein Bild, Tempotempo!

Foto: Mathias Weitbrecht

Die Kanzlerin sagte, das Konferenzmotto "Mit Maß und Mut" gebe einen Kompass zum Ziel vor. Die Stifte flitzten übers Papier - ein Kreis, ein Stern, vier Himmelsrichtungen N, O, S, W, Weitbrecht hatte einen Kompass auf Papier gebracht. Schnell, wie im Reflex. Beim Schlagwort erneuerbare Energien hier ein Strich, da ein Punkt, ein paar Wellenlinien und schraffierte Flächen - auf dem Papier wuchs eine Landschaft mit Schornsteinen und Windrädern.

Graphic Recording ist ein Spiel mit den Sinnen. Werden die Ohren müde, können Informationen vielleicht noch über die Augen gespeichert werden. Wenn etwa ein Strichmännchen auf dem Kopf einen Trichter trägt und darüber viele kleine "i" tanzen. Nachricht ans Gehirn: Du sollst Informationen sammeln.

Alles echte Handarbeit

Das Duo arbeitet mit einfachen Symbolen: Zum Vortragswort Idee zeichnen Weitbrecht und sein Kollege Malte von Tiesenhausen flugs eine Glühbirne. Ein Telefonhörer steht für Kommunikation, eine Aktentasche für Geschäfte. "Häufig liefern die Sprecher die passenden Bilder selbst", sagt von Tiesenhausen. Als ein Vortragsredner Mario Draghi, den Präsidenten der Europäischen Zentralbank, immer Super Mario nannte, zeichnete Tiesenhausen die Comicfigur aus dem Videospiel. Als sich zwei Chefs beschimpften, illustrierte er den Konflikt mit einem Schwein.

Ist Tiesenhausen richtig im "Flow", springt er von einer Bildecke in die nächste, greift dabei immer wieder in seine Gürteltasche mit Stiften und Pinseln - dicke, dünne, helle, dunkle. Manchmal hat er sieben Filzer in der Hand und wechselt blitzschnell, malt links noch etwas, dann wieder rechts. Aus wirren, bunten Striche fügt sich ein Bild zusammen. "Die Kernbotschaft vieler Reden kann man auf zwei Sätze eindampfen", sagt Tiesenhausen schmunzelnd. Als er sich dabei ertappt, aus dem Fenster zu schauen, entschuldigt er sich und greift wieder zu Blatt und Stift: "Wenn ich zeichne, bin ich konzentrierter."

Seine Arbeit vergleicht das Duo gern mit Kinderzeichnungen. "Kinder malen den Himmel blau und die Häuser mit einfachen Strichen", sagt Weitbrecht. "Sie abstrahieren Inhalte, so wie wir auch." Nur, dass die beiden Graphic Designer oft vor zahlreichen Vorstandsvorsitzenden zeichnen, wie beim jährlichen Swiss Economic Forum mit über tausend Teilnehmern. "Ich höre zu und entscheide sofort, was ich zeichne oder weglasse", so Weitbrecht. Die Hälfte davon sei reine Intuition.

New York, Kopenhagen, Davos oder auf einem Boot auf der Spree - die Orte wechseln ständig. Bei mehrtägigen Konferenzen kann es passieren, dass das Duo vierzig verschiedene Reden mitzeichnen muss. Am Ende stehen überdimensionale Werke in bunten Farben auf riesigen Papierbannern: ungewöhnliche Wimmelbilder, fast schon Kunstwerke, mitunter 3,5 Meter lang und 1,5 Meter hoch.

Hören, überlegen und die Worte in Bildern wiedergeben: Wer so viel Wissen in Windeseile aufsaugen und und in Bildern umsetzen kann, der muss doch auch vor Bildung strotzen? Mathias Weitbrecht, schon seit gut zehn Jahren im Geschäft, sagt: "Das meiste landet im Kurzzeitgedächtnis."

Pauline Schinkels (Jahrgang 1990) studiert in Köln Sozialwissenschaften und absolviert parallel an der Kölner Journalistenschule eine Ausbildung zur Journalistin für Wirtschaft und Politik.

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