Illegale Arbeitsverträge "Mit Hartz IV ist es schlimmer geworden"

Arbeitslose: Wer für einen Job Schlange steht, akzeptiert eher einen schlechten Vertrag
Foto: Julian Stratenschulte/ dpaKarriereSPIEGEL: Herr Schüren, Sie sagen, es gebe immer mehr Arbeitsverträge, die gegen geltendes Recht verstoßen. Wie kommen Sie darauf?
Schüren: Ich vermute es. Immer mehr Betroffene treten mit Anfragen an mich heran. Außerdem häufen sich die Fälle, über die in den Medien berichtet wird. Das wahre Ausmaß des Problems bleibt im Dunkeln, weil wir über die Mehrzahl der Arbeitsverträge nichts wissen.
KarriereSPIEGEL: Was sind typische Rechtsverstöße?
Schüren: Zum Beispiel werden Arbeitsverhältnisse im Billiglohnbereich mit einer Art Akkordsystem versehen, das zwangsläufig die Stundenlöhne noch weiter absenkt, weil die Vorgaben viel zu hoch sind. In einem Fall sollten Friseure einen täglichen Mindestumsatz erreichen, damit überhaupt ein Lohn bezahlt wird. Oder Mitarbeiter mit geringem Einkommen müssen gratis Überstunden leisten. Solche Fälle nehmen zu.
KarriereSPIEGEL: Kann da nicht auch Ahnungslosigkeit eine Rolle spielen?
Schüren: Nein! Arbeitgeber, die solche Vertragsklauseln austüfteln, handeln mit Bedacht, um die Lohnkosten zu verringern. Es geht um Kostensenkung und Wettbewerbsvorteile. So etwas überlegt man sich vorher.
KarriereSPIEGEL: Wo liegen die Grenzen für unbezahlte Überstunden, tägliche Mindestumsätze und Stundenlöhne?
Schüren: Die Rechtsprechung prüft das auf eine ganz simple Weise: Sie stellt die gesamte reale Arbeitszeit dem Einkommen gegenüber. Entscheidend ist also nicht die Frage, ob Überstunden nach dem Vertrag bezahlt werden oder nicht. Man teilt die gesamten wirklich gearbeiteten Stunden durch den gezahlten Lohn. Wenn jemand bei einem Stundenlohn von acht Euro nach dem Vertrag 40 Stunden arbeitet und noch 15 Stunden unbezahlte Überstunden erbringt, dann sind das unterm Strich 55 Arbeitsstunden und ein tatsächlicher Stundenlohn von 5,82 Euro. Man prüft im nächsten Schritt, ob dieser tatsächliche Lohn schon sittenwidrig ist oder nicht.
KarriereSPIEGEL: Was ist der Maßstab dafür?
Schüren: Die Gerichte prüfen, was für diese Arbeit als Lohn üblich ist. Bei 30 Prozent unter dem üblichen Lohn fängt die Sittenwidrigkeit an. Wenn also für diese Arbeit der übliche Lohn zehn Euro sind, dann wären acht Euro noch im Rahmen. Aber 5,82 Euro wären eindeutig sittenwidrig.
KarriereSPIEGEL: Müssen Arbeitnehmer unbezahlte Überstunden zu leisten?
Schüren: Nur wenn sie sich im Arbeitsvertrag dazu verpflichtet haben und diese Verpflichtung selbst im Einzelfall zulässig ist. So kann etwa eine nicht fest definierte Überstundenanzahl bei einem guten Einkommen pauschal abgegolten werden.
KarriereSPIEGEL: Wenn ein Arbeitnehmer einen rechtswidrigen Vertrag unterschreibt, ist er dann nicht selbst schuld? Schließlich akzeptiert er damit die Vertragsbedingungen.
Schüren: Das Arbeitsrecht soll den Arbeitnehmer gerade dann schützen, wenn er einen solchen Vertrag unterschreibt, weil er keine Alternative hat. Es ist ein Arbeitnehmerschutzrecht. Und Schutz braucht man dann, wenn man sich selbst nicht helfen kann. Die Menschen akzeptieren schlechte Arbeitsbedingungen ja nur deshalb, weil sie keine besseren bekommen.
KarriereSPIEGEL: Meinen Sie denn, dass die Arbeitsmarktlage schlecht ist? Für das vierte Quartal 2012 meldete das Nürnberger Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung eine Million offene Stellen.
Schüren: Für Gesamtdeutschland. Doch der Arbeitsmarkt unterscheidet sich regional, nach Tätigkeiten und nach Branchen. Die Marktsituation lässt sich sehr anschaulich am Lohnniveau erkennen. Wenn in einer Region oder einer Branche Menschen für fünf Euro arbeiten, zeigt das eine hohe Nachfrage nach Arbeit.
KarriereSPIEGEL: Sind es bestimmte Branchen oder Tätigkeiten, wo solche Praktiken geballt auftreten?
Schüren: Meist sind es einfachste Tätigkeiten, die keine Ausbildung voraussetzen. Und Branchen in denen der gewerkschaftliche Organisationsgrad minimal ist. Und es betrifft vermutlich oft Menschen, die am Arbeitsmarkt Schwierigkeiten haben. Unternehmen nutzen diese Situation aus, zur Kostensenkung mittels schlechter Arbeitsbedingungen.
KarriereSPIEGEL: Seit wann beobachten Sie das Phänomen rechtswidriger Klauseln in Arbeitsverträgen?
Schüren: Mit den Hartz-Reformen nahm das zu. Denn Hartz IV hat den Druck auf die Menschen stark erhöht, jedes Arbeitsangebot anzunehmen. Schlechte Arbeitsbedingungen und geringe Bezahlung werden, wo es keine Alternative gibt, akzeptiert.
KarriereSPIEGEL: Wie kann diese Entwicklung gestoppt werden, wie können sich Betroffene schützen?
Schüren: Wenn man den Betroffenen einen Vorwurf machen will, dann den, dass sie sich gewerkschaftlich viel zu wenig organisieren. Diese Menschen machen sich nicht klar, dass sie ihre Lage nur durch eine konsequente kollektive Interessensvertretung verbessern können. Wenn sie das nicht tun, werden sich die schlechten Bedingungen kaum ändern.
KarriereSPIEGEL: Das größte Problem ist doch: Wer sich wehrt, bekommt es mit dem Chef zu tun.
Schüren: Wer sich als Einzelner wehrt, sollte am besten vorher einen neuen Job haben. Der Arbeitnehmer hat im laufenden Arbeitsverhältnis bei Konflikten nur eine Chance, wenn es im Unternehmen einen Betriebsrat gibt, der den Konflikt für ihn mit dem Arbeitgeber austrägt. Als Einzelner kann er zwar einen Rechtsstreit führen und den möglicherweise auch gewinnen. Der Arbeitsplatz überlebt den Rechtsstreit aber nur selten.
KarriereSPIEGEL: Wie gehen solche Fälle normalerweise vor Gericht aus - sind Strafen abschreckend hoch?
Schüren: Es kommt bei solchen Rechtsstreiten nicht oft vor, dass die Arbeitsgerichte per Urteil entscheiden. Vergleiche sind häufiger. Dann gibt es etwas Geld, und der Arbeitsplatz ist meist weg. Strafverfahren wegen sittenwidriger Löhne sind ganz selten. Etwas häufiger kommt es vor, dass Sozialversicherungsbeiträge bei Dumpinglöhnen nachgefordert werden.

Das Interview führte Peter Ilg. Der KarriereSPIEGEL-Autor arbeitet als freier Journalist in Aalen.