In Kooperation mit

Job & Karriere

Fotostrecke

Ingenieurgehälter: Top 5 und Flop 5 nach Branchen

Foto: Stephanie Pilick/ picture alliance / dpa

Ingenieurmangel Mit Karacho in den Schweinezyklus

Hilfe, Deutschland braucht mehr Ingenieure! Berufsverbände, Arbeitgeber, der Wirtschaftsminister dramatisieren den Technikermangel. Nach dem Daueralarm füllen sich nun die Unis mit Ingenieurstudenten - doch für viele ist das eine Falle.
Von Peter Ilg und Matthias Kaufmann

Wenn Achim Gocht vom "Ingenieurmangel" hört, muss er lachen, doch es klingt bitter. Der Datenverarbeitungstechniker hat seine Ingenieurausbildung in der DDR gemacht und sich nach der Wende zum Controller und Multimediafachmann weiterbilden lassen. Eine hoch qualifizierte Fachkraft also.

Dennoch ist Gocht arbeitslos. Wie viele Bewerbungen er geschrieben hat? Schwer zu überblicken. Allein 83 schickte er in den Großraum München. Woran es hapert, ist ebenso schwer auszumachen - Absagen müssen ja nicht begründet werden. Gocht ist 57, das wird eine Rolle spielen. Und ist man nur lange genug arbeitslos, wirkt die Kombination aus langer Arbeitspause und guter Qualifikation verdächtig. Aus dieser Falle kommt man kaum noch raus. Für Gocht ist die Sache gelaufen: "Ich habe aufgegeben."

Wie Achim Gocht sind 20.400 Ingenieure arbeitslos gemeldet, einerseits. Andererseits klagen deutsche Unternehmen seit Jahren, es gebe zu wenige qualifizierte Fachkräfte. Wie passt das nur zusammen?

Ingenieure sollen Deutschlands Exportmaschinerie am Laufen halten. Den Mangel an Technikern beklagen Wirtschafts- und Arbeitgeberverbände seit Jahren so ausdauernd, dass er Allgemeingut geworden ist: Ohne Ingenieure kein Wachstum.

Der Verein Deutscher Ingenieure (VDI) verkündete kürzlich einen historischen Höchststand der Ingenieurslücke im Juni 2011. "Mindestens 76.400 Stellen können derzeit in Deutschland nicht besetzt werden", so Vereinsdirektor Willi Fuchs.

Wirklich ein Schlüsselproblem der Wirtschaft?

Auch Rainer Brüderle (FDP), bis vor kurzem Wirtschaftsminister, trommelt für den Berufsstand und warnt: Der Mangel an Fachkräften werde zum "Schlüsselproblem". Die Botschaft kommt allmählich an: Die Studentenzahlen in den Ingenieurwissenschaften stiegen laut Statistischem Bundesamt im letzten Jahrzehnt um fast 100.000 auf rund 384.000.

Und doch gibt es Zweifel. Die Bundesregierung antwortete nur ausweichend auf eine parlamentarische Anfrage der Linken, ob sie das "Schlüsselproblem" konkret beziffern könne: Es könnten "nur begrenzt Aussagen dahingehend getroffen werden, welche Fachkräftebedarfe nach Branchen, Regionen und Qualifikationen zu einem bestimmten Zeitpunkt unternehmensgrößenspezifisch in Deutschland vorliegen". Oder kurz: Irgendwo kneift's immer - wir wissen's doch auch nicht genauer.

Wiederholt ist in der Antwort nur von "Lücken" zwischen Arbeitskräftenachfrage und -angebot die Rede, nicht von einem allgemeinen Fachkräftemangel. Das ist nicht dasselbe. Wer einen hochspezialisierten Ingenieur sucht, etwa einen Raumfahrttechniker, stößt leicht auf eine Lücke - in diesem Bereich gibt es nur wenige Absolventen. Für die große Masse der Maschinenbauer gilt das nicht.

Mehr Absolventen als freie Stellen

Bereits im November erregte eine Studie aus dem Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) Aufsehen. Der Fachkräftemangel sei in der Dimension, wie er von der Wirtschaft dargestellt werde, ein Trugbild.

Der Autor, DIW-Referent Karl Brenke, gestand zwar zu, dass es in einzelnen Regionen und bestimmten Branchen zu Engpässen komme. Doch gerade im Maschinenbau - beliebtes Studienfach und zugleich Klassiker der deutschen Exportwirtschaft - gebe es keinen Grund zur Sorge. Pro Jahr würden in der Wirtschaft nur 9000 Stellen für Maschinenbauer frei, während die Universitäten 22.000 Absolventen ausspuckten.

Brenke befürchtet, man heize mit den Alarmmeldungen den "Schweinezyklus" an, die gefürchteten und regelmäßigen Übertreibungen bei Angebot und Nachfrage nach Absolventen. Auch die aktuellen VDI-Zahlen kritisiert er als wenig verlässlich: "Die Debatte um einen angeblichen Ingenieurmangel wird von schlechter Quelle gespeist."

Der Horrorwert von 76.400 fehlenden Ingenieuren stützt sich auf Angaben des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) zur Fachkräfte-Altersstruktur in den Unternehmen, die zudem befragt werden, ob sie demnächst neue Leute einstellen wollen. In die Berechnung fließen die offenen Ingenieurstellen ein, die der Bundesagentur für Arbeit (BA) vorliegen. Am Ende wird die Zahl der arbeitslos gemeldeten Ingenieure abgezogen - doch zuvor kommt ein Schritt, der sich dramatisch auf die Ergebnisse auswirkt.

Dann multiplizieren wir mal - wie der Daueralarm mit Studieninteressenten spielt und die Gehälter drückt

Was VDI und IW machen: Sie multiplizieren die Angaben der Bundesagentur mit dem Faktor 7,14 - weil es viel mehr unbesetzte Stellen gebe, als die Behörden wissen. Denn je höher die Qualifikation, desto seltener laufen Bewerbungsverfahren über die Arbeitsagenturen.

Doch ist 7,14 ein realistischer Faktor? Darüber streitet die Fachwelt. Brenke hält ihn für viel zu hoch, VDI-Mitarbeiter Lars Funk für "wissenschaftlich sauber ermittelt. Dazu befragen wir regelmäßig die Unternehmen nach der tatsächlichen Zahl ihrer Ausschreibungen und der Meldungen bei der BA".

Die Unternehmen haben also die Größe der Ingenieurslücke zu einem gewissen Grad selbst in der Hand - schon geringe Abweichungen des Faktors verändern die Zahl unterm Strich gewaltig.

Realistischer wäre laut Brenke die Gegenüberstellung von Angebot und tatsächlicher Nachfrage: Wie viele Ingenieure werden aufgrund von Ersatzbedarf gebraucht, wie viele für eine Expansion? Wie viele Ingenieure sind arbeitslos, wie viele verlassen die Unis? "Nach unserer Berechnung werden in Boomzeiten jährlich 40.000 Ingenieure gebraucht." Was allein schon die Hochschulen hergeben, die rund 20.000 arbeitslos gemeldeten Ingenieure nicht mal eingerechnet.

Wie Brenke hält auch Michael Schanz vom Elektroingenieur-Verband VDE die Schreckenszahlen für völlig übertrieben. Anstelle einer Momentaufnahme legt er lieber den Saldo eines ganzen Jahres zugrunde. Ergebnis: Für 2011 sieht Schanz einen Mehrbedarf von 5000 bis 7000 Elektrotechnik-Ingenieuren. Eine Lücke, gewiss. Aber keine dramatische. Solche Engpässe sind normal im Aufschwung.

Riskantes Spiel mit Absolventen

Die Schätzung entspricht anderen Beobachtungen von Schanz: "Unternehmen stellen immer noch ausschließlich Kandidaten ein, die wirklich passen. Absolventen und auch Berufserfahrene können nicht davon ausgehen, jeden Job zu bekommen, den sie wollen."

Mit Horrorzahlen wie vom VDI gerät nicht nur die Politik unter Handlungsdruck. Kritiker Brenke vom DIW warnt zudem, schon in wenigen Jahren könne es einen Überschuss an Ingenieuren geben. So sei derzeit im Maschinen- oder Fahrzeugbau die Studentenzahl etwa gleich hoch wie die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten. Und je eher dem Aufschwung die Puste ausgeht, desto früher könnten viel mehr Ingenieure arbeitslos sein - auch junge.

Experten wie Martin Dietz vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) halten das sogar in Bereichen für denkbar, die derzeit als sichere Bank gelten. Etwa das Fach Elektrotechnik, für das sich viele junge Leute entscheiden, verleitet vom Boom der Elektromobilität und Energietechnik. Nicht auszuschließen, dass der Boom bereits verraucht ist, wenn sie fertig sind. Dann stehen die Absolventen ohne Job da.

Wozu das riskante Spiel mit den Absolventen? VDI-Mann Funk weist den Alarmismus-Vorwurf weit von sich - weil in den nächsten zehn Jahren 450.000 Ingenieure in den Ruhestand gingen und der technische Fortschritt selbst dann einen Personalzuwachs erfordern würde, wenn es gar kein Wachstum gäbe. Also nicht der "berüchtigte Schweinezyklus, sondern ein handfestes strukturelles Problem", so Funk.

"Die haben Angst, dass die Gehälter steigen"

Kritiker werfen dem VDI vor, zentrale Entwicklungen außer acht zu lassen: den Produktivitätsfortschritt, die neuerdings erleichterte Fachkräftezuwanderung, einen steigenden Anteil von Erwerbstätigen, etwa wenn sich Familie und Beruf leichter vereinbaren lassen und ältere Mitarbeiter tatsächlich bis zur Rente arbeiten - all das senke den Bedarf an Nachwuchsingenieuren.

"Viele Verbände machen Lobbyarbeit für ihre Mitgliedsunternehmen, die haben Angst davor, dass die Gehälter steigen. Das können die Firmen vermeiden, indem das Angebot an Ingenieuren groß genug ist", sagt Heinz-Josef Bontrup, Professor für Betriebswirtschaft an der FH Gelsenkirchen. Er nennt den Daueralarm der Verbände "völlig verantwortungslos".

Vielleicht verraten die Einkommen etwas: Laut Personalberatung Kienbaum bekommen Ingenieure heute 2,9 Prozent mehr als 2010 - das Ergebnis eines Boomjahrs. Klingt kaum nach Personalern, die einander bei der Anwerbung wertvoller Absolventen übertrumpfen. Das war auch Karl Brenkes schlagkräftigstes Argument: Wenn Ingenieure so knapp sind, warum steigen dann nicht ihre Gehälter viel stärker?

Bei seinem Chef Klaus Zimmermann kam das gar nicht gut an. Der damalige Institutspräsident hatte immer vor dem Fachkräftemangel gewarnt. Erst nach einigem Gezerre durfte Brenkes Studie mit Verspätung erscheinen. Nun enthält sie ein paar abschwächende Hinweise. Doch in der Sache wurde nichts geändert.

Mitarbeit: Eva-Maria Simon

Die Wiedergabe wurde unterbrochen.
Merkliste
Speichern Sie Ihre Lieblingsartikel in der persönlichen Merkliste, um sie später zu lesen und einfach wiederzufinden.
Jetzt anmelden
Sie haben noch kein SPIEGEL-Konto? Jetzt registrieren