Jobsuche Der ganz normale Bewerbungswahnsinn

Bewerber unter Beobachtung: Manche Unternehmen treiben's bunt
Foto: CorbisSebastian D. machte vor etwas mehr als einem Jahr seinen Abschluss als Wirtschaftsingenieur, Master of Science, Note: sehr gut. Zudem verschönerte er seinen Lebenslauf mit Praktika bei namhaften Unternehmen. Nach dem Studium fand er genug freie Stellen, ob als Trainee oder per Direkteinstieg.
Wer jetzt meint, Sebastian D. hätte leichtes Spiel gehabt, einen Job zu bekommen, liegt falsch.
Der Uni-Absolvent...
- schrieb rund 60 Bewerbungen,
- führte sieben Telefoninterviews mit potentiellen Arbeitgebern,
- war dreimal im Assessment-Center,
- wurde elfmal zum Vorstellungsgespräch geladen.
Er tingelte durch das halbe Land. Viermal erreichte Sebastian D. die entscheidende Auswahlrunde, was bedeutete, dass er eine Einladung zu einem weiteren Vorstellungsgespräch erhielt.
Ein mittelständisches Unternehmen der Technologiebranche machte ihm schließlich ein Vertragsangebot - nach mehr als drei Monaten und einem ebenfalls umfangreichen Bewerbungsprozess. Begeistert war der 27-Jährige, der deshalb anonym bleiben möchte, nicht: "Der Job war nicht meine Wunschvorstellung. Ich hatte sogar noch Bewerbungen laufen, viele Unternehmen ließen aber auf ihre Antwort warten. Um den Zirkus zu beenden und Gewissheit zu haben, nahm ich an."

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Die Zeiten, in denen ein Bewerbungsschreiben und ein Vorstellungsgespräch ausreichten, sind vorbei. Quer durch alle Branchen und Unternehmensgrößen testen Arbeitgeber ihre Bewerber heute auf Herz und Nieren. Doch warum gleich in derart langen, systematisierten Auswahlverfahren? Ist es die Angst der Unternehmen vor der eigenen Entscheidung? Experten schätzen die Kosten für die Fehlbesetzung einer Stelle immerhin auf das anderthalb- bis dreifache des Jahresgehalts.
Google zum Beispiel steht im Ruf, mit Job-Kandidaten extrem viele Gespräche zu führen - bis zu 20 pro Nase. Das hat der Konzern jedoch inzwischen zurückgefahren: "Die Kandidaten frustriert es, uns raubt es Zeit", so Personalchef Laszlo Bock im Interview; vier Gespräche müssten reichen.
Überbleibsel der New Economy
Den Bedarf an strukturierten Bewerbungsprozessen erkennen Unternehmensberater und Personalpsychologen seit der Zeit der New Economy. Damals gab es einen Ansturm auf Jobs im IT- und Kommunikationssektor. Jeder, der irgendwie etwas mit Computern oder Medien zu tun hatte, hielt sich für die teils neuen und vage definierten Berufsbilder qualifiziert. Die Unternehmen mussten tatsächlich geeignete Bewerber systematisch aus der Masse herausfiltern. Dieser Trend breitete sich aus.
Insbesondere Stellen für Berufseinsteiger haben oft hohe Bewerberzahlen. Beispiel RWE: Der Energieversorger bietet mit dem sogenannten International Graduate Programme (IGP) talentierten Hochschulabsolventen ein Traineeship im General Management an. In diesem Jahr gibt es 700 Bewerber für vier freie Plätze. "Wie kommt man von 700 auf vier? Das ist unsere Herausforderung. Die Auswahl ist schwierig und muss daher gut strukturiert sein", sagt Dieter Jurgens, der als Personaler bei RWE für das IGP zuständig ist.
Das Auswahlverfahren zum Graduierten-Programm ließ sich RWE vom Personalberater eligo auf Basis psychologischer Eignungsdiagnostik konzipieren. Wer als Bewerber die Muss-Kriterien erfüllt, schreibt einen Online-Test, gibt ein Telefoninterview und durchläuft ein ausführliches Assessment-Center. Mit jedem Schritt mustert RWE Kandidaten aus. "Der Prozess ist knallhart, und es fallen natürlich immer sehr gute Leute durch. Aber er hat sich bewährt. Feedback und Evaluationen zeigen, dass die Besten aus dem Auswahlverfahren mit großer Wahrscheinlichkeit auch erfolgreich im Job sind", erläutert Jurgens.
Auf der Suche nach dem Überfachlichen
Die Besten, das sind nicht mehr nur die mit den nötigen fachlichen Qualifikationen. "In den letzten Jahren fällt uns auf, dass die Auswahl nach Fachkompetenzen zurückgeht und die Bedeutung von Soft Skills zunimmt. Da fachliches Know-how heute immer schneller veraltet, werden soziale oder kommunikative Kompetenzen wichtiger", stellt Astrid Schütz vom Kompetenzzentrum für Angewandte Personalpsychologie (KAP) der Universität Bamberg fest. Dort befasst sich ein Team von Psychologen unter anderem mit der Auswahl von Arbeitnehmern und der Durchführung von Bewerbungsverfahren.
Auch um diese schwer zu erfassenden, überfachlichen Qualifikationen der Bewerber festzustellen, setzen Unternehmen auf umfangreiche Auswahlverfahren. Das ist aber kein Freifahrtschein zur Anwendung aller möglichen Methoden. Von Bewerbungsgesprächen mit obligatorischen Fragen nach vermeintlichen Soft Skills (etwa "Verfügen Sie über eine Hands-on-Mentalität?") hält Psychologin Schütz zum Beispiel wenig: "Solche Fragen werden von den meisten Bewerbern pauschal bejaht. Deutlich differenziertere Ergebnisse liefern biografische Fragen mit Bezug auf konkrete Situationen."
Die eigentliche Qualität eines Bewerbungsprozesses leite sich aus der systematischen Kombination der Einzelverfahren ab. Aufwand und Ertrag sollten in einem gesunden Verhältnis stehen, so Schütz. Das KAP rät Unternehmen daher zur Besinnung auf das Wesentliche: "Es sollte vorher, möglichst nach wissenschaftlichen Methoden, eine Anforderungsanalyse durchgeführt werden. Welche Anforderungen sind für die Stelle erfolgskritisch? Das ist die Grundlage einer guten, weil passgenauen Personalauswahl."
Ob ein Bewerbungsverfahren dann letztendlich zu ausschweifend oder angemessen ist, hängt vom Einzelfall ab. Sebastian D. könnte bald schon wieder in der Warteschleife stecken: Bei einem Jobwechsel beginnt das Geduldsspiel von neuem - aber immerhin hat er nun ein ungekündigtes Arbeitsverhältnis.

KarriereSPIEGEL-Autor Roman Milenski (Jahrgang 1982) arbeitet als freier Journalist im Ruhrgebiet.