In der Kantine zeigt sich das wahre Ich
Foto: Stefan KuhnigkFür Eilige geht es hier direkt zur Fotostrecke
Eigentlich hatte Marco F.*, 22, einen guten Einstieg an seinem ersten Tag im Job: Die Kollegen waren freundlich, die Arbeit fiel ihm leicht. Doch dann musste er in die Kantine.
"Darauf war ich nicht vorbereitet", erinnert sich Marco, der bei einer Versicherung in Hamburg als Trainee arbeitet. "Punkt zwölf waren alle Kollegen verschwunden."
Warum hatte ihn keiner gefragt, ob er mitmöchte? Sollte er das persönlich nehmen? Schließlich stolperte er allein und überfordert durch den Speiseraum: Was ist im Menü inbegriffen? Wie funktioniert die Bezahlung? Bei wem setzt man sich an den Tisch? Da stand Marco nun mit seinem dampfenden Cordon bleu auf dem Tablett - einsam in der Menschenmenge.
Erstkontakt mit dem Schmackofatzer
"Hey, du", hörte er eine Frauenstimme hinter sich. Eine ebenfalls neue Kollegin lächelte ihn an, er kannte sie flüchtig von der offiziellen Begrüßung am Morgen. Sie war mit einer kleinen Gruppe aus ihrer Abteilung essen gegangen und fragte: "Willst du mit an unseren Tisch?"
Marco war erleichtert. Unter Neulingen konnten sie ihre Erfahrungen vom Vormittag teilen, dachte er. Oder? Die Gruppe war für ihn schwer einzuschätzen. Ein Herr mittleren Alters sagte während der ganzen Mahlzeit nichts, dafür hatte er seinen Teller vor allen anderen geleert. Eine Frau sprach die ganze Zeit über die Sorgen ihres pubertierenden Sohnes, der sich offenbar für übergewichtig hielt.
Das war Marcos erste Begegnung mit zwei sozialen Lebensformen, die es in praktisch jeder Kantine gibt, nämlich mit dem Schmackofatzer und dem TMI-Typ.
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Für Marco endete der erste Tag in der Kantine übrigens versöhnlich. Sein Teamleiter entschuldigte sich. Mit etwas Verspätung habe er Marco noch dazuholen wollen, da war der aber schon allein losgegangen. Mancher Kantinen-Fauxpas passiert selbst Arbeitstieren, die in diesem Biotop schon lange leben.
* Name geändert
Stefan Kuhnigk, Jahrgang 1985, ist Kommunikationsdesigner. Bekannt ist er für die kleinen Monster, die er aus Kaffeeflecken zeichnet - Ende Mai erscheint sein Coffeemonster-Buch.
SPIEGEL-ONLINE-Redakteur Matthias Kaufmann, Jahrgang 1974, kümmert sich um Berufs- und Bildungsthemen. Er speist seit gut 15 Jahren regelmäßig in Kantinen.
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Die Kantine ist eine andere Welt: Irgendwie förmlicher als die Mensa, die viele vom Studium kennen, irgendwie privat und dienstlich zugleich. Wer dort seine Pausen verbringt, trifft auf eine merkwürdige wie liebenswerte Schar von Arbeitstieren. Wir stellen die wichtigsten von ihnen vor - in kurzen Lexikoneinträgen und mit Bildern, die auch aus Essensflecken hätten entstehen können.
Der Schmackofatzer
homo cantiniensis adipositas
...ist gekommen, um zu futtern. Während er sich eine doppelte Portion Fettuccine einverleibt, spricht er kein Wort. Wie auch, der Mund ist ja voll, nichts wäre schlimmer, als dass ihm auch nur eine kostbare Kalorie aus dem Mund purzelt.
Für die Kollegen ist er eigentlich ganz angenehm, weil man sich jeden Small Talk schenken kann. Allerdings verunsichert er Neulinge mit seinem gefräßigen Schweigen.
Kennzeichen: Wohlgenährte Physis, gering entwickeltes Sozialleben.
Die Quasselstrippe
homo cantiniensis eloquentis
...ist das glatte Gegenteil vom Schmackofatzer. Sie redet und redet und redet. Und hätte auch ohne Essen eine schöne Mittagspause, solange ihr niemand die Schalldruck-Hoheit am Kantinentisch streitig macht. Hin und wieder nimmt sie doch etwas zu sich, gehetzt und mit nur leicht gedrosseltem Redefluss.
Für die Kollegen ist sie eigentlich ganz angenehm, weil man sich jeden Small Talk schenken kann - den erledigt sie alleine. Allerdings sollte man besser keinen eigenen Redebedarf haben.
Kennzeichen: Lebhaftes Sozialleben ohne nennenswerte Interaktion mit Artgenossen. Hohe Morbidität als Folgeerscheinung der regelmäßig stressbehafteten Nahrungsaufnahme.
Der Too-much-information-Typ (TMI-Typ)
homo cantiniensis indiscretum
...ein entfernter Artgenosse der Quasselstrippe. Berichtet haarklein Dinge, die man nicht bei Tisch hören will, zum Beispiel, wie er sein dauerndes Sodbrennen in den Griff bekam oder wie bei Tante Gerlinde die Harnsteine entfernt wurden. Der TMI-Typ schreckt auch vor Saftigkeiten nicht zurück, die anderen peinlich wären, wenn sie wüssten, dass er sie ausplaudert. Aber sein Publikum giert danach.
Für die Kollegen ist er so unterhaltsam wie eine Staffel "Jackass", also eigentlich ganz angenehm. Allerdings sollte man die eigene Fremdschäm-Schwelle rechtzeitig anpassen: Themen wie Herpesbehandlung oder Analfissur können auf den Magen schlagen.
Kennzeichen: Hohe Reizresponsivität und niedere Instinkte.
Der Meeting-Mogler
homo cantiniensis dux
...bespricht in der Pause dienstliche Themen, die eigentlich in ein Meeting gehören. Meist handelt es sich um einen Teamleiter oder Mittelmanager, der seine desolate Terminplanung durch Arbeitsessen ausgleichen möchte. Ist dabei durchaus freundlich und eloquent, weil er zumindest unterbewusst weiß, dass er Kollegen die Pause mopst.
Für die Kollegen ist er eine Zumutung, was ihm aber natürlich niemand sagt. Vor lauter Redearbeit kommt man kaum zum Essen.
Kennzeichen: Bewegt sich fast nie am unteren Ende der Hackordnung, in vielen Firmen eindeutig erkennbar an der Krawatte.
Der Linke-Spur-Fahrer
homo cantiniensis ultra sonitus
...drängelt sich überall vor, am Büfett, am Tisch, am Aufzug. Schafft es, zugleich schnell zu reden und schnell zu essen. Er macht so auch bei allen Tischgenossen Tempo - fehlt nur noch die Lichthupe.
Für die Kollegen ist er ganz angenehm: Wenn er endlich davongebraust ist, können alle noch in Ruhe einen Extrakaffee schlürfen. Allerdings sollten sie sich nicht hetzen lassen.
Kennzeichen: Wehende Haare und unscharfe Umrisse. Über Physis und Sozialleben gibt es keine mit Messgeräten überprüfbaren Erkenntnisse.
Der Trödler
homo cantiniensis folivora
...isst so langsam, dass selbst geduldige Zeitgenossen nur unter größter Anspannung in seiner Begleitung speisen können. Er selbst bekommt davon nichts mit und genießt jeden Bissen. Er verhält sich Kollegen gegenüber ausgesucht freundlich, weil er, wie alle Faultiere, nur alle zwei Wochen von seinem Baum herabsteigt: Jedes Wiedersehen ist für ihn ein Ereignis.
Für die Kollegen ist er trotzdem eine Zumutung, weil der sich aufstauende Zeitdruck auf den Magen schlägt. Außerdem erledigen sich damit alle anschließenden Rauch- und Kaffeepausen.
Kennzeichen: Schwarze Nase, zotteliges Fell, drei Finger an allen Gliedmaßen, acht- bis zehngliedrige Halswirbelsäule - wie bei allen Faultieren.
Mr oder Mrs Extrawurst
homo cantiniensis arrogans
...legt in der Kantine Wert darauf, sich abzuheben, sei es durch die Extraportion Sardellen auf der Pizza (deren Fehlen in wortreicher Melodramatik beklagt wird) oder die Anti-Gluten-Tablette (deren Einnahme umso feierlicher zelebriert wird, je unnötiger sie im medizinischen Einzelfall ist).
Für die Kollegen sind solche Extrawurstigkeiten eine Zumutung, weil sie das Kantinenpersonal unnötig serviceunfreundlich stimmen und der Distinktionszwang die Stimmung am Tisch verdirbt.
Kennzeichen: Egozentrisches Auftreten ohne Entsprechung im Status sowie der Satzanfang "Könnte ich noch..."
Der Alleinesser
homo cantiniensis vestigator
...ist in so wichtiger Mission unterwegs, dass er Tischgesellschaft meidet. Beherrscht dafür diverse Agentenkompetenzen zur Tarnung, etwa die antizyklische Speisenaufnahme, wenn sonst kaum jemand in der Kantine ist. Der Alleinesser blockiert die Plätze neben sich mit Jacken und verbirgt sich während des Essens hinter einer Tageszeitung oder einem Smartphone. Setzt sich dennoch jemand zu ihm, landet der auf einer streng geheimen schwarzen Liste. Umgehend wird der Frevel mit der Höchststrafe belegt: bleiernem Schweigen.
Für die Kollegen ist er angenehm, solange sie sich von ihm fernhalten. Zwar ist er gesellig wie Dr. No, aber er sorgt für klare Verhältnisse: Wer ihm nicht in die Quere kommt, hat nichts zu befürchten.
Kennzeichen: Die Zeitung vorm Gesicht. Und vielleicht der Umstand, dass kein Kantinenbesucher genau sagen kann, wann er gekommen oder gegangen ist.
Nein, dieser Herr ist nicht ein weiterer Kantinentyp - sondern unser Illustrator Stefan Kuhnigk, der die Figuren aus Essensklecksen gestaltet hat. Dafür hat er kein echtes Essen verwendet, sondern Zufallsflecken mit Wasserfarbe geplempert und als Grundlage für seine Zeichnungen verwendet.
Das ist das Prinzip
seiner Coffeemonsters
, die allerdings aus echten Kaffeeflecken entstehen, und denen demnächst
ein eigenes Buch gewidmet
wird.
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