
Karriere bei unbekannten Firmen Komm ins schöne Rottendorf
Der Lebenslauf von Isabelle Blaich, 31, klingt nach Dolce Vita. In Florenz hat sie Mode studiert, Kleider in Mailand und Düsseldorf entworfen. Ihr Arbeitsort heute: Rottendorf. 5670 Einwohner, eine Tankstelle, ein Supermarkt, eine Handvoll Gaststätten. Und die Zentrale des Modeunternehmens S. Oliver. Den Firmennamen kennt man, den Ortsnamen nicht. "Natürlich habe ich vorher gegoogelt, wo ich da lande", sagt Blaich. "Aber mich hat die Herausforderung im Job gelockt, egal ob in Florenz oder sonstwo."
Binnen einer Woche hatte die Designerin sich entschieden, wohnt jetzt im nahen Würzburg und vermisst nicht viel: "Höchstens einen guten Club, wo nicht nur Studenten sind." S. Oliver hatte Blaich von Anfang mit Aufstiegschancen gelockt, knapp ein Jahr später wurde sie Designchefin für die Business-Männermode. "Wir besetzen nicht nur Positionen, sondern stellen einen Karriereplan auf", sagt Personalchef Reinhold Werthmann.
So wie s.Oliver, 2011 mit einem Rekordumsatz von 1,2 Milliarden Euro, stehen viele Unternehmen vor einer Zeitenwende. Sie wachsen, trotz Krise, und haben ein großes Problem: gute Mitarbeiter in die Provinz zu holen und dort zu halten. Bisher konnten sie ihren Personalbedarf oft in der Region decken - wo man sie eh schon kennt. Jetzt müssen sich die Provinzgrößen überregional als Arbeitgeber einen Namen machen.
Marketing allein reicht nicht. Um Standortnachteile auszugleichen, müssen Mittelständler mehr bieten: Eigenverantwortung, flache Hierarchien, wenig Bürokratie, kurze Entscheidungswege, im Idealfall ein familiäres Miteinander. Die wertvollen Fachkräfte sollen es in Rottendorf und anderswo so schön wie möglich haben.
Wohlfühlatmosphäre im Büro
Bei S. Oliver gibt es Yogakurse, eine Kita, einen "Leibarzt" für die Mitarbeiter und eine Kantine, die nicht nach dem Mittagessen schließt. Die Chefs haben aber auch eingesehen, dass ein Leben in Rottendorf nicht für alle in Frage kommt. Darum macht das Unternehmen den gut 1600 Mitarbeitern das Pendeln leicht.
Nach langen Verhandlungen mit Stadt, Land, Bahn bringt jetzt ein Tunnel die Mitarbeiter in fünf Minuten vom Bahnhof zur Firmenzentrale. Auch um die optimale Busanbindung kämpft der Konzern; beim Ausbau der A3 wurde die Ausfahrt Rottendorf gleich als erstes fertig. Personalchef Werthmann hat zudem gelernt, dass Mitarbeiter, die am Wochenende in Hamburg oder Berlin sind, nicht am Montagmorgen um neun Uhr am Schreibtisch sitzen können: "Wir haben uns auf Pendler eingestellt."

Auch Anke Karsch bei SEW Eurodrive sieht Pendeln als Zukunftsmodell: "Bei den Inhabern von Schlüsselpositionen wird das Lebensmodell seltener, wo man morgens mit der Familie am Frühstückstisch sitzt und sich abends um 18 Uhr wiedersieht." Die Leiterin der Personalentwicklung selbst verbringt die Wochenenden bei ihrem Freund in Wiesbaden statt in Bruchsal. Trotz der schönen Radwege, trotz Barockschloss und Baggersee, mit denen SEW Eurodrive für den Firmensitz zwischen Karlsruhe und Heidelberg wirbt.
Bisher fand der Hersteller von Antriebstechnik, für zum Beispiel Förderbänder und Rolltreppen, die meisten der rund 4000 deutschen Beschäftigten in der Umgebung. Viele waren heilfroh über einen guten Job in der Nähe. Heute muss SEW bundesweit suchen. "Der Markt wird immer enger", sagt Anke Karsch - weil zu wenige Ingenieure ihr Studium beendeten und "man selbst mit einigen Absolventen nichts anfangen kann". Außerdem sei "SEW kein Unternehmen wie Daimler oder Porsche, wo die Leute aus Imagegründen hingehen".
Um bekannter zu werden, investiert die Personalabteilung ins Marketing. Als eines der ersten Unternehmen ließ man sich vom TÜV zertifizieren, als "Ausgezeichneter Arbeitgeber für Ingenieure". Ein Karriereportal im Internet, ein Imagefilm und Stände auf Ingenieurmessen sollen darauf aufmerksam machen, dass es bei SEW viele spannende und gut bezahlte Jobs gibt. "Nur: Wenn jemand nicht nach Bruchsal will, kann man das auch nicht erkaufen", so Anke Karsch.
Namenstasse zur Begrüßung
Brigitte Schütz von Testo aus dem Schwarzwald kennt das Problem. Ihre Aufgabe ist es, für den Weltmarktführer bei tragbaren Messgeräten neue Mitarbeiter zu finden und vorhandene zu halten: "Bei bestimmten Positionen mit Berufserfahrung dauert es schon mal länger, bis die besetzt sind." Die Gemeinde Lenzkirch hat außer dem Heilklima nicht viel zu bieten. Manche Mitarbeiter pendeln gar von der Schweizer Grenze, weil die Familie sich weigert, in den dunklen Schwarzwald zu ziehen, wo der Schnee sich ein paar Monate länger hält als anderswo.
Abiturienten mit einem dualen Studium zu locken, ist deutlich einfacher. Also setzt Testo auf Schülerwettbewerbe, den "Abend der Ausbildung", Praktika und Hochschulkooperationen. Anglizismen wie "Employer Branding" gehören längst zum Grundwortschatz.
Das neue Firmengebäude für 1200 Mitarbeiter entstand nicht am Stammsitz Lenzkirch, sondern in Titisee. Hier gibt es einen Bahnhof, und die Bundesstraße 31 führt direkt nach Freiburg. Wer einen neuen Mitarbeiter wirbt, wird mit einem iPhone oder einem Urlaubstag belohnt. Neuankömmlinge erhalten eine Kaffeetasse mit dem eigenen Namen, fertig eingerichtete Schreibtische sowie Mentoren, die ihnen den Start erleichtern sollen. Nach drei Monaten horchen die Personaler nach, wie sich der Neue eingelebt hat, "denn die ersten Monate sind doch eine wichtige Zeit", sagt Brigitte Schütz.
Ingenieur Holger Frank, 38, erinnert sich noch gut, wie er zum ersten Mal die Schwarzwald-Serpentinen hochfuhr, immer weiter in den Winter hinein. 2003 hatte der Magdeburger seinen ersten Arbeitstag bei Testo und war "der Exot". Heute gibt es einige Mitarbeiter aus Köln, Berlin oder Bremen. Testo hat im vergangenen Jahr seine Belegschaft in Deutschland um 174 Mitarbeiter aufgestockt.
Wichtigstes Argument: So flott kommen Sie weg
Frank hat mittlerweile seine Freundin nachgeholt, die fürs Schwarzwald-Idyll einen guten Job in München aufgab und auf eine Stelle in Freiburg hofft, sobald der drei Monate alte Sohn in der Krippe seine ersten Brocken Alemannisch lernt.
S. Oliver lässt neuerdings eine spanische Personalerin nach Mitarbeitern suchen. Personalchef Werthmann hofft auf kreative, gut ausgebildete Designer und IT-Spezialisten aus dem kriselnden EU-Land: "Da gibt es keine rechtlichen Hürden, die Flugzeiten sind kurz."
Aber wie man's auch dreht und wendet: Ein Gutteil der Argumente geht dafür drauf zu erklären, wie schnell man aus der Provinz wieder wegkommt. Das ist in Rottendorf nicht anders als in Bruchsal oder Lenzkirch. Vom S.-Oliver-Büro sind es knapp vier Stunden bis Berlin, zum Frankfurter Flughafen eine gute Stunde.
Für Isabelle Blaich und Kollegen sind die Ausflüge in die große, weite Welt kein reines Privatvergnügen. "Meine Designer dürfen nicht nur über ihrer Kollektionsplanung am PC sitzen, sie brauchen kreativen Input und müssen sehen, was sich international tut", so Blaich. Auch sie selbst ist viel unterwegs. Erst vergangenen Monat schickte sie ihr Arbeitgeber nach London - zum Shoppen.

KarriereSPIEGEL-Autorin Julia Graven (Jahrgang 1972) ist freie Wirtschaftsjournalistin in München.