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Ehrgeizige Arbeiterkinder: Aufstieg mit Hindernissen

Karriere von Arbeiterkindern "Das ist doch nicht deine Welt"

Vater Hausmeister, Mutter Politesse, der Sohn Doktorand - eine seltene Kombination. Der berufliche Aufstieg durch Bildung ist möglich, aber schwierig. Wer sich über ein Studium hocharbeiten will, bekommt es zu tun mit familiären Vorbehalten, misstrauischen Lehrern und arroganten Kommilitonen.
Von Margarete Hucht

Vanessa Giese, 34, musste sich von den lieben Verwandten viele Sprüche anhören: Was willst du denn an der Universität? Das ist doch nicht deine Welt! Denkst du etwa, du bist was Besseres? Eine Ausbildung ist auch was Gutes! Giese ist eine von denen, die aus der Art geschlagen sind. Anders als ihr Vater, ihre Mutter, Tanten oder Onkel hat sie studiert und gerade ihre Journalistik-Doktorarbeit an der TU Dortmund eingereicht.

Ihre Eltern, ein Speditionskaufmann und eine Hausfrau, hätten sie immer unterstützt, sogar jede Seminararbeit gelesen, so Giese. Trotzdem fand sie ihre Studienzeit "sehr anstrengend", bekam nur wenig Bafög, musste immer dazuverdienen. Das Geld war aber nicht das Hauptproblem, sagt sie - mehr das Milieu. Die Uni als Kulturraum, der Habitus, aber auch die Zerrissenheit: Das Kind aus einfachem Hause fühlte sich nicht wohl.

Menschen wie Vanessa Giese, die als erste in ihrer Familie studieren, halten sich für nicht parkettsicher in der akademischen Welt. An der Hochschule bewegen sie sich mit Gleichaltrigen, die scheinbar alles besser wissen und sich viel selbstbewusster in Szene setzen.

Die Zahlen: Von 100 Akademikerkindern absolvieren 81 das Gymnasium, 71 studieren. Von 100 Nichtakademikerkindern machen 45 das Abitur, und nur 24 nutzen ihre Hochschulzugangsberechtigung - was noch nicht heißt, dass sie ihr Studium auch abschließen. "Die Akademiker reproduzieren sich selbst", sagt Dieter Timmermann, Präsident des Deutschen Studentenwerks.

"Das Mädchen kriegen wir durch"

Um die Bildungswege anzugleichen, müsste sich schon an den Schulen einiges ändern. Nur mit Glück treffen Nichtakademikerkinder auf Pädagogen, die das Beste für sie wollen. Bei Daniela Hünlein, 31, war es die beherzte Klassenlehrerin an der Realschule, die ihre Mutter davon abhielt, sie an der Hauptschule anzumelden: "Das Mädchen kriegen wir durch", sagte die Lehrerin, als es mal nicht so gut lief.

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Nach einem "ganz passablen Abschluss" schaffte Hünlein die Ausbildung zur Krankenschwester mit "sehr gut". "Ich selbst hatte nie gedacht, dass ich mal studieren würde", sagt sie. "Andererseits war mir immer klar: Eine einfache Krankenschwester bleibe ich nicht." Nun steht sie kurz vor dem Pflegepädagogik-Bachelor an der FH Ludwigshafen.

Auch Mihael Duran, 32, ermutigte eine Lehrerin, mehr zu wagen und nach der Hauptschule weiter zu lernen. Die Mittlere Reife machte er auf einer Wirtschaftsschule, das Abitur auf einem Wirtschaftsgymnasium - Wiederholung der elften Klasse inklusive. Egal. "Ich wollte alle Türen offen haben, ich wollte das Abitur", so Duran.

Durch ein abgebrochenes Erststudium verlor der Sohn eines Hausmeisters und einer Politesse seinen Bafög-Anspruch. Also blieb er im BWL-Studium bei den Eltern wohnen und jobbte, etwa als Abräumer in der Disco. Richtig durchatmen kann Duran bis heute nicht. Er arbeitet als wissenschaftlicher Mitarbeiter bei den Betriebswirtschaftlern der Tübinger Uni und schreibt seine Dissertation: "Wenn man erst mit Anfang 30 promoviert, muss es schnell gehen. Ich habe oft eine 60- bis 70-Stunden-Woche."

Abschluss ohne familiären Rückenwind

Warum fühlen sich viele Hochschüler der ersten Generation so belastet? "Die Regeln sind nicht transparent, wie man an der Hochschule erfolgreich ist, was in der Abschlussarbeit oder der mündlichen Prüfung gefordert wird, wie man einen Stipendienantrag schreibt", sagt Katja Urbatsch. Die Tochter eines Bankangestelltenpaares aus Ostwestfalen hat Nordamerikawissenschaften studiert und sagt, die Hochschule funktioniere nach dem Gesetz: "Wer es nicht allein schafft, hat hier nichts zu suchen" - was sie für völlig falsch hält.

Urbatsch wurmte das so sehr, dass sie die gemeinnützige Initiative Arbeiterkind  gründete. Unterstützung finden Schüler und Studienstarter, die ohne familiären Rückenwind einen akademischen Abschluss anstreben. Das Netzwerk vermittelt Mentoren und arbeitet eng mit den zwölf Begabtenförderungswerken zusammen. Mittlerweile hat es mehr als 5000 Mitglieder und einige angestellte Mitarbeiter.

In ihrem Buch "Ausgebremst - Warum das Recht auf Bildung nicht für alle gilt" erzählt Urbatsch von Lehrern, die es gar nicht erst als ihre Aufgabe sehen, über Wege ins Studium zu informieren, von Studienberatern und von Arbeitsagentur-Mitarbeitern, die Nichtakademikerkindern den Studienwunsch auszureden versuchen: "Allein schaffen Sie das nicht!"´

Zerspanungsmechanik statt Grafikdesign

Auf Widerstand stieß auch Annekathrin Krietsch, 28, die immer aufs Gymnasium wollte und gute Noten hatte. "Eigentlich hätte ich gern nach der Realschule das Abitur gemacht. Aber unser Schuldirektor riet davon ab. 'Machen Sie lieber erst einmal eine Ausbildung', legte er uns ans Herz. 'Dann haben Sie etwas Sicheres in den Händen und eine Option zum Geldverdienen'."

Statt Grafikdesign zu studieren, ließ sich Krietsch zur Zerspanungsmechanikerin ausbilden. Das Fachabitur holte sie zusammen mit dem Technikerabschluss in einem vierjährigen Verbundstudium nach. Inzwischen ist sie Wirtschaftsingenieurin - und dürfte langfristig doppelt so viel verdienen wie in ihrem Ausbildungsberuf.

Krietsch bekommt das sogenannte Aufstiegsstipendium  und erfuhr davon zufällig über einen Freund. Das Bundesbildungsministerium nimmt jährlich mehr als tausend sehr gute Ausbildungsabsolventen mit Studienwunsch als Stipendiaten auf. Eine Altersbegrenzung gibt es nicht, die Chancen für den Zuschlag sind gut. Andreas van Nahl von der zuständigen Stiftung Begabtenförderung berufliche Bildung in Bonn lässt durchblicken, dass sich manche Hochschulmitarbeiter mit Werbemaßnahmen für das Programm schwertun. Es erscheint ihnen wohl zu unakademisch.

Ein Mentor für Studienfragen

Die "Zeit"-Stiftung setzt noch früher an und wendet sich mit dem Schülercampus "Mehr Migranten werden Lehrer"  speziell an junge Menschen aus den sogenannten bildungsfernen Schichten. Murat Kazan, 22, aus Berlin-Neukölln nahm als Abiturient teil, auf Empfehlung seiner Türkischlehrerin: "Eine tolle Woche. Wir haben Unis und Schulen besucht, mit Schulleitern gesprochen. Es gab auch Infos zum Bafög und ein Zertifikat über die Teilnahme, das wir bei Bewerbungen nutzen können."

Der Deutschtürke, dessen Eltern eine Bäckerei betreiben, studiert jetzt im zweiten Semester Mathe und Physik auf Lehramt. Eine Ausnahme, wie er weiß: "Auf meinem Gymnasium waren fast nur türkische Kinder." Und von den Mitschülern in der siebten Klasse machte lediglich ein Drittel das Abitur.

Unterstützung im Studium findet Murat findet durch das "Berliner Netzwerk für Lehrkräfte mit Migrationshintergrund" . Studenten, Referendare und fertige Lehrer organisieren Seminare etwa zu Selbst- und Zeitmanagement oder zur Studienorganisation. Sogar einen bezahlten Studentenjob als Co-Lehrer an einer Schule hat er gefunden und trifft sich monatlich mit einem Mentor. "Phänomenal", findet er. Sogar ein passendes Stipendium gibt es für Studenten wie ihn - bei der Hertie-Stiftung . Murat will sich auf jeden Fall bewerben.

KarriereSPIEGEL-Autorin Margarete Hucht (Jahrgang 1968) ist freie Journalistin in Berlin.

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