Artikel-Highlights 2016 So geht es in der Kindernotaufnahme zu

Krankenschwester mit Kind
Foto: YinYang/ Getty ImagesZwischen Wunsch und Wirklichkeit ist in vielen Berufen jede Menge Platz. In der Serie "Das anonyme Job-Protokoll" erzählen Menschen ganz subjektiv, was ihren Job prägt - ob Tierärztin, Staatsanwalt oder Betreuer im Jobcenter. Der folgende Beitrag stammt von einer Kinderkrankenschwester. Sie hat ihn unter Pseudonym zuerst auf Facebook veröffentlicht . Unsere Version, die am 29. Juli 2016 erstmals auf SPIEGEL ONLINE erschien, ist leicht gekürzt.
"Die Tür zur Notaufnahme öffnet sich, und wie immer blicke ich zu Dienstbeginn in einen überfüllten Wartebereich mit verschnupften, hustenden und spielenden Kindern. Ich sehe Mütter, die in Gruppen zusammen stehen und lauthals schimpfen, wie lange sie schon warten. Und Kinder, die fröhlich singen. Ich frage mich, was für ein Notfall sie herführt.
Links sehe ich einen blassen Achtjährigen, und schaffe es gerade noch, ihm einen Mülleimer hinzuhalten, in den er sich entleert. Seine Mutter, sichtlich besorgt und überfordert, erzählt mir, dass er seit heute Morgen Erbrechen und Durchfall hat. Ich überlege ernsthaft, ihr zu sagen, sie solle mit ihrem Sohn doch lieber nach Hause fahren und ihn ins Bett stecken, damit er in Ruhe seinen Virus auskurieren kann. Aber ich weiß, dass solch eine Empfehlung nach hinten losgehen kann. Ich bringe dem Jungen ein Glas kaltes Wasser.
Neben ihm malt eine Fünfjährige fröhlich. Ach, da sitzt eine Zecke am Hals. Ich frage mich, ob es nicht risikoärmer gewesen wäre, hätte die Mutter die Zecke zu Hause entfernt. Jetzt sitzt sie stundenlang hier, und die Zecke hat mehr Zeit, sich ihrer Bakterien zu entledigen.
Auf dem Weg ins Dienstzimmer werde ich von weiteren Eltern bestürmt. Wie viele Patienten sind vorher dran? Ich schaue in den Computer. Zwei, sage ich zu einer Mutter. Eine Wartezeit könne ich nicht nennen, da wir eine Notfallambulanz sind. Sie ist vorerst beruhigt. Zu dem Zeitpunkt weiß ich noch nicht, dass im Schockraum gerade ein Zweijähriger reanimiert wird.
Im Dienstzimmer: eine volle Kanne mit kaltem Kaffee, ein angebissenes Brötchen, Gummibärchen. Ich bekomme eine kurze Übergabe.
An der Anmeldung bildet sich eine Schlange. Ich bin jetzt dort die einzige, alle anderen kümmern sich um den Zweijährigen. Ich nehme Kinder mit leichtem bis hohem Fieber an und weiß, dass die Mamas die Ambulanz in drei Stunden fluchend mit einem Paracetamol-Rezept verlassen werden. Sie werden sauer sein, dass keine Diagnose feststeht und sie nach dem Rezept noch fragen mussten. Wenige verstehen, dass man nach ein bis zwei Tagen Fieber noch keine Diagnose stellen kann, denn häufig stellen sich erst am zweiten Tag Symptome wie Schnupfen oder Halsschmerzen ein.
Einen kurzatmigen Jungen ziehe ich vor, unter bösen Blicken von anderen Eltern. Ich ermittle alle Werte und eine schlechte Sättigung lässt mich handeln, ich gebe ihm Sauerstoff. Da ich weiß, dass unsere Ärzte gerade einer Mutter vom Tod ihres Kindes erzählen, mache ich schon mal auf eigene Faust Blutentnahme und Inhalationen und suche ein Bett.
Draußen fängt mich Mutter X ein und wird laut. Sie warte jetzt zwei Stunden, obwohl doch vorhin nur zwei Patienten vor ihr dran waren. Ich schaue ihr Kind an, es spielt fröhlich mit dem Handy. Ich messe eine Temperatur von 38,3 Grad, Schmerzen werden verneint. Ich sage der Mutter, dass jetzt drei Patienten vorher dran sind.
Drei Räume weiter haben unsere Ärzte gerade eine Stunde um ein Leben gekämpft. Die Mutter des Jungen würde wahrscheinlich alles dafür geben, mit einem schnupfenden Kind drei Stunden hier zu warten. Am liebsten würde ich das in den Wartebereich rufen. Und an die Wand schreiben:
"Alle, die hier länger als 30 Minuten warten, können sich zu den Glücklichen zählen, denn ihr Kind ist kein Notfall."
An der Anmeldung sehe ich an dritter Stelle einen Kinderwagen mit einem grauen Säugling. Ich bitte die Mutter in ein Behandlungszimmer. Die Mutter auf Platz eins wird böse: Ständig ziehe ich Kinder vor, ihres wäre auch ein Notfall. Es schlürft Capri-Sonne.
Ich kümmere mich um das graue Baby, funke unseren Arzt an und hoffe, sein Gespräch mit den leidenden Eltern ist beendet. Gleich muss es schnell gehen. Mein Gefühl sagt mir, dass das Baby eine Blutvergiftung hat. Eine Ärztin kommt mit roten Augen rein. Alles geht schnell, das Kind wird versorgt.
Wieder draußen wird die Ärztin von Mutter X angeschrien, sie solle endlich ihre Arbeit machen, man würde hier die ganze Zeit keinen Arzt sehen. Die Ärztin wird unfreundlich und sagt leider, was ich denke: "Ihr Kind ist kein Notfall." Die Mutter verlässt ohne Untersuchung mit ihrem Kind die Klinik, ein Gespräch bei der Direktion ist programmiert.
Zwei Rettungswagen kommen. Zwei Schockräume werden vorbereitet.
Das eine Kind kann draußen mit den anderen fiebernden Kindern warten. Das andere hat sich verbrannt, es schreit und durchlebt höllische Schmerzen. Unsere Ärzte lassen alles andere liegen.
Eine Zwölfjährige kommt mir entgegen, und ich werde traurig. Sie war wegen eines Hirntumors fünf Jahre bei uns in Behandlung. Mir ist bewusst, dass sie kommt, weil ihre Schmerzen unerträglich sind und sie jetzt ihren letzten Weg gehen wird. Vorbei an unverständlichen Blicken bringe ich sie in Raum 3 und schließe die Tür. Zehn Minuten gehören ihr und mir.
Eine Mutter mit einem fünf Wochen alten Säugling steht an der Anmeldung. Sie ist verzweifelt und müde, ihr Baby schreit seit Tagen, sie hat keine Hebamme. Ich habe Mitleid und nehme mir die Zeit, ihr ein paar Tipps zu geben, zeige ihr, wie sie ihr Baby richtig ins Tragetuch packt. Das Baby ist völlig gesund.
Am Ende meines Dienstes habe ich 65 Patienten gesehen und versorgt, darunter zehn Notfälle.
Ich will keine Mutter davon abhalten, in die Klinik zu fahren. Aber allen, die Stunden in der Notaufnahme warten und das Gefühl haben, hier arbeitet keiner, möchte ich sagen: Euer Kind ist nicht unbeobachtet, auch wenn es euch so vorkommt. Das Pflegepersonal ist geschult, um einschätzen zu können, wie krank es ist. Seid froh, wenn ihr warten dürft."
Das anonyme Jobprotokoll: So sieht der Alltag wirklich aus