
Konzentration im Job Warum unser Gehirn gedruckte Texte braucht


Während Sie diese Worte lesen, passiert mindestens all das: Ihre Augen fließen nicht über die Zeilen, sie springen in sogenannten Sakkaden, bis zu viermal pro Sekunde. In einem ausgefuchsten System fixieren sie bestimmte Stellen, meist ein wenig links der Wortmitte. Dort verharren sie ungefähr eine Viertelsekunde, nehmen zu beiden Seiten nur wenige Buchstaben wahr – mehr können die Augen aufgrund ihrer Bauweise nicht scharf stellen.

Joachim Gern
Volker Kitz ist promovierter Jurist. Er forschte am heutigen Max-Planck-Institut für Innovation und Wettbewerb und ist Autor mehrerer Bestseller. Aktuell erschienen ist »Konzentration – Warum sie so wertvoll ist und wie wir sie bewahren«.
Die Kombination dieser Buchstaben vergleicht Ihr Gehirn mit gespeicherten Mustern. Es erkennt Worte, behält einige davon im Kurzzeitgedächtnis, während die Augen weiterspringen. Es bringt die Worte im Satz in ein Verhältnis zueinander und entschlüsselt eine in Zeichen codierte Aussage. Bei alldem blenden Sie Ihre Nasenspitze im Bild unbewusst aus.
Was wir kurzerhand »lesen« nennen, ist eine Bravourleistung unseres Gehirns. Dieser komplexe Ablauf will gelernt sein. Schulkinder üben das Vorlesen. Erst mit der Zeit gehen wir zum stummen Lesen über: Noch eine Weile bewegen sich die Lippen, bis wir diese Bewegung mehr und mehr unterdrücken, ebenso wie die Zeigefingerwanderung unter den Zeilen. Selbst als Erwachsene spüren wir beim stummen Lesen noch Bewegungsimpulse in der Zunge, wenn wir darauf achten.
Ein Drittklässler liest etwa hundert Wörter pro Minute. Erwachsene, die selten lesen, steigern diese Geschwindigkeit kaum. Wer regelmäßig Bücher liest, schafft um zweihundertfünfzig Wörter pro Minute. Schnelllesetechniken propagieren einen Durchsatz von bis zu tausend. [Ab hier folgen in diesem Artikel noch 477 Wörter. Schauen Sie auf die Uhr – und los:]
Nur mit Konzentration erfassen wir den Inhalt eines längeren Textes. Das gilt für die Informationen und Thesen eines Sachbuchs ebenso wie für die fremde Welt eines Romans. Seine Komplexität macht das Lesen zu einer Mischung aus Konzentrationsübung und Konzentrationstest: Wer oft zurückspringen muss, einen Absatz, ein Kapitel von vorn beginnen, hat einen Hinweis darauf, dass Konzentration fehlt.
Papier fördert die Konzentrationsfähigkeit
Dabei gibt es Unterschiede zwischen analogen und digitalen Texten. Sie trainieren verschiedene Fähigkeiten. Am größten sind die Unterschiede bei Sachtexten, wie eine Metastudie im Jahr 2018 herausfand, zusammengefasst in der »Stavanger-Erklärung« zur Zukunft des Lesens. Möchten wir Informationen aufnehmen, fällt uns die Konzentration leichter, wenn wir den Text gedruckt auf Papier vor uns haben. Der visuelle Eindruck einer starren Seite hilft der Orientierung, und wir merken uns besser, was wir gelesen haben. Deshalb fordern längere Texte auf Papier eher die Konzentrationsfähigkeit als digitale Texte. Am Bildschirm dagegen schärfen wir eher unsere Fähigkeit zu Suche, Navigation und Personalisierung, wichtige Kompetenzen, um uns in der digitalen Welt zurechtzufinden. Am besten trainieren wir unsere Fähigkeiten also, indem wir elektronische und gedruckte Texte im Wechsel konsumieren.
Dabei ist es wichtig, für die analogen Momente das Smartphone auch wirklich beiseitezulegen. Das gilt nicht nur deshalb, weil wissenschaftlich längst erwiesen ist, dass unser Gehirn kein Multitasking beherrscht.
Auch das ausgeschaltete Handy stört
Denn das Smartphone kann die Konzentration durch seine bloße Anwesenheit stören, wie eine wissenschaftliche Studie zeigte: Während sie Konzentrationsaufgaben löste, sollte eine Gruppe von Probanden ihr Smartphone neben sich auf dem Tisch deponieren. Eine andere verstaute es in Schublade oder Tasche. Eine Dritte ließ es im Nachbarzimmer. Die besten Leistungen erzielte die Gruppe, die ihr Gerät nicht in den Raum gebracht hatte. Am schlechtesten schnitten die ab, die es im Blickfeld behielten. Obwohl niemand von ihnen zum Smartphone griff, obwohl die Probanden versicherten, nicht einmal daran gedacht zu haben, beeinträchtigte es ihre Konzentration – nur weil es auf dem Tisch lag. Ob das Display sichtbar war oder nach unten gekehrt, machte keinen Unterschied. Nicht einmal abschalten oder stumm schalten verhinderte den Effekt.
Die Forscher schlossen daraus: Die bloße Anwesenheit des Smartphones verbraucht geistige Ressourcen. Das Gehirn muss offenbar der ständigen Versuchung widerstehen, sich mit dem Gerät zu beschäftigen, zumindest daran zu denken, welche Nachrichten eingehen könnten. Diese Unterdrückungsarbeit zieht Aufmerksamkeit ab und erschwert die Konzentration auf anderes. »Brain drain« nannten das die Forscher. Der Effekt wirkte umso stärker, je mehr jemand nach eigener Aussage im Alltag auf sein Smartphone angewiesen war. Das klingt wie eine Ironie des Schicksals: Wem das Telefon besonders wichtig war, der litt auch besonders unter seiner Anwesenheit.
Viele haben heute ihr Telefon immer in der Nähe, bei der Arbeit, beim Lernen, beim Fernsehen, beim Abendessen, beim Lesen, beim Schlafen, sogar beim Sex. Damit machen wir uns die Konzentration womöglich unnötig schwer. Bildschirm und Buch, digitale und analoge Welt – eintauchen lässt sich in beides, und in beidem sollten wir bewandert bleiben. Es sollte nur nacheinander geschehen, mit einem bewussten Wechsel zwischen den Welten.
Dieser Artikel ist ein gekürzter Auszug aus dem Buch »Konzentration – Warum sie so wertvoll ist und wie wir sie bewahren«.